01 August 2024

Warum der Name „Propsteigarten“ zwar nett, jedoch irreführend ist


der Propsteigarten (links ein Teil der historischen Propstei; hinter der Efeumauer das Westportal der Martinskirche) Foto: phil

Gleich westlich der Martinskirche liegt der malerische Propsteigarten. Er hat seinen Namen von dem historischen Gebäude, das eine seiner vier Seiten bildet: der Propstei; also dem Gebäude, in dem in Zeiten, in denen sich hier noch das bedeutende weltliche Chorherrenstift befunden hat, der Leiter des Stifts, der Propst, seinen Amts- und Wohnsitz hatte. Damit war es das Verwaltungszentrum eines sehr reichen, mit vielen Besitzungen ausgestatteten Stifts und sicher selbst sehr aufwendig ausgestaltet.

Schaut man sich die Anlage heutzutage an, meint man, dass der von einer Mauer umrandete, schöne Garten sehr organisch zu dieser Kleriker-Residenz gehört haben kann. Hat in diesem Grün der Propst nach harten finanziellen, theologischen oder politischen Verhandlungen Erholung gesucht?  Durchaus hohe Ansprüche wird ein Propst gehabt haben – immerhin ist z.B. der vorletzte Propst, Heinrich Tegen, Doktor des Kirchenrechts an der bedeutenden und malerischen Universität Bologna gewesen.

Was also ist gegen den Namen „Propsteigarten“ einzuwenden?

Nun: Wir reden von einem Chorherrenstift, das über vier Jahrhunderte in Sindelfingen bestanden hat. Das war zwar ein „weltliches“ Stift, aber die Chorherren waren Geistliche; und wir lesen von Prozessionen durch den Kreuzgang; es hat feierliche, große Messen gegeben; die weltliche Herrschaft wird das reiche Stift besucht haben. Viele Chorherren und viele Adlige sind im Sindelfinger Kreuzgang begraben worden.

Denn wir befinden uns mit dem Stift ja noch in katholischer Zeit, mit ihren vielen Symbolstrukturen. Und da ist immer das Westportal das Portal der Feierlichkeiten gewesen: Vom theologisch dunklen Westen ging die Prozession hinein in die Kirche auf den Chor im Osten zu, Jerusalem und der aufgehenden Sonne, dem Christussymbol, entgegen. Eine kleine Wallfahrt also.

Wie soll unter diesen Bedingungen das Westportal in seinem schmalen, dunklen, feuchten Gang funktioniert haben? Soll man sich mit den Monstranzen, Reliquienbehältern, Weihwasserkesseln, Baldachinen und Siegesfahnen durch diesen Gang, der hinten geschlossen war, gequetscht haben? Das ist undenkbar.


ergänzter Plan von 1830, der das "versteckte" Westportal neben dem Garten zeigt (Plan: Stadt Sindelfingen)

Die einzige Lösung aus diesem Problem: In katholischer Zeit, also bis 1535, hat es den Garten mit seinen Mauern gar nicht gegeben. Eine Prozession konnte an der Propstei entlang auf das Westportal zulaufen, davor konnte man sich auch versammeln. Das Westportal besaß keine blutrote Gerichtstür wie heute, denn die hat der Restaurator, der berühmte Architekt Leins, erst 1864 dahin versetzt. Sie gehörte eigentlich ans Südportal.

Seit  der Reformation1535 gab es keine Prozessionen mehr und überhaupt war der Symbolwert der unterschiedlichen Himmelsrichtungen des Gotteshauses in alle Winde zerstoben. Das Westportal verlor seine Bedeutung, das Tor auf der Südseite wurde der Haupteingang der Kirchengemeinde, zeremonielle Sonderstrukturen wurden abgelehnt. In der ehemaligen Propstei residierten nun die herzoglichen Beamten, die Vögte. Die wohnten mit ihrer Familie im letzten übriggebliebenen Stiftsgebäude und einer von ihnen ließ sich bei Gelegenheit an die Südseite des schönen Dienstgebäudes einen Garten anbauen. Dass sich durch die östliche Gartenmauer das einstige Hauptportal der nun evangelischen Martinskirche in einer schmalen, dunklen Passage wiederfand, regte niemanden auf.

mögliche Ansicht der Westseite der Martinskirche im 19. Jahrhundert; die Gartenmauer links (Collage: phil)

Vielleicht hat man diesen neuen Garten dann folgerichtig den „Vogteigarten“ genannt. Als aber Anfang des 19. Jahrhunderts die Vögte zu beamteten „Oberamtmännern“ wurden, brauchte man einen neuen Namen. Es war die Zeit des romantischen Rückblicks auf die deutsche mittelalterliche Geschichte, mit der immer durchaus kreativ umgegangen wurde. War es also der in die Sagenwelt verliebte, aus Sindelfingen stammende Pfarrer Ottmar Schönhuth, der den Garten nun zum mittelalterlichen „Propsteigarten“ machte? (Wir kennen unzählige kleine, sagenartige Erzählungen von ihm; vielleicht hat er sich auch in die Rolle eines hoch gebildeten Propstes hineingeträumt.)

Wir nehmen den Propsteigarten hin; weil sein Name zwar historisch falsch ist, aber an einen bedeutenden Teil der Sindelfinger Geschichte erinnert: an das bis heute vermisste bedeutende Chorherrenstift, das 1477 in einem grausamen Akt von Sindelfingen nach Tübingen verlegt wurde.

23 Juni 2024

Was ist ein Chalander?

Um diese Frage für Sindelfingen beantworten zu können, müssen wir in die Geschichte des Hauses Corbeil-Essonnes-Platz 8 schauen.  Zu diesem schönen Haus gehörte früher eine großzügige landwirtschaftliche Struktur  mit Scheune, Stall, Hühnerstall, einem Backhaus – siehe das untenstehende Bild. 

der Leonhardtsche Hauskomplex rot umrandet (Stadtmodell im Stadtmuseum, Collage: phil)

Heute als „Haus der Familie“ genutzt, beherbergte es bis zum 19. Jahrhundert die sogenannte Geistliche Verwaltung, die für die finanzielle kirchliche Struktur des Oberamts Sindelfingen und des gesamten Oberamts Böblingen zuständig war. So blieb es bis 1807, als das Oberamt Sindelfingen aufgelöst wurde. Mit dieser politischen Entscheidung verlor das prächtige Gebäude seine bisherige Funktion als Geistliche Verwaltung – und stand leer. Die Konsequenz im Jahre 1812: Die Königliche Kameralverwaltung Sindelfingen organisierte eine Versteigerung und verkaufte das Haus an den Meistbietenden. Und das war der Sindelfinger Kaufmann Carl Friedrich Leonhardt mit seinem Gebot von 5445 Gulden. 

historische Aufnahme des Leonhardtschen Komplexes, von Westen gesehen (Stadtarchiv)

Leonhardt stammt aus einer gut situierten Sindelfinger Familie, sein Vater war politisch selbstbewusster Landtagsabgeordneter, Chirurg, Barbier und Bürgermeister und Carl Friedrich ist Kaufmann. Und übrigens: Leonhardt war in zweiter Ehe verheiratet mit der Tochter eines Hofjägers der Grafschaft Württemberg-Mömpelgard in Burgund, der Witwe des Böblinger Schlossaufsehers Ganzhorn. Wir können uns also Leonhardt mit seiner Familie in diesem Haus gut vorstellen.  

 

Kaufleute, die sich solche schönen Häuser leisten konnten, gab es in Sindelfingen nur ganz wenige. Wir stellen uns vor: Im Türmchen sitzt seine Frau und bestickt Seidentücher der Jacquardweberei Haid & Spring, die hier nur 250 Meter entfernt lag.

 

Dieser Carl Friedrich Leonhardt war also im Hauptberuf Chalander oder Chaland, das heißt, dass er Spediteur und Reeder, vor allem aber ein offiziell von den staatlichen württembergischen Hüttenwerken mit dem Verkauf ihrer Erzeugnisse beauftragter Kaufmann war, der dieses Handelsrecht durch die Bezahlung einer Taxe erhalten hatte. So durfte nur er am Ort - in seinem schönen Haus - Eisenwaren wie Öfen, Ofenplatten, Messer, Werkzeuge, Stab- und Kleineisen usw. verkaufen. 

 historische Sindelfinger Bürgerliste mit dem Chalander Leonhardt (Google books)

Geliefert wurden die meisten Eisenwaren vom Hüttenwerk Ludwigstal bei Tuttlingen.  Als aber das große Hüttenwerk Wasseralfingen, auf der Ostalb, das zum Fürstbistum Ellwangen gehörte, durch die napoleonische Neuordnung eines Königreichs Württemberg ab 1803 Württemberg zugeschlagen wurde, war Wasseralfingen nun ab 1812 die „Hauptgießerei“ des Landes.

typische Anzeige für Metallwaren (Wikipedia)

Mit der Modernisierung der Produktions- und Vermarktungsstrukturen wurde 1812 auch die historische Struktur der „offiziellen“ Eisenverkäufer, also der Chalander, aufgelöst. Nun war auch Leonhardt der freien Konkurrenz anderer Metallwarenhändler ausgesetzt. Vielleicht als Ergänzung und Erweiterung seiner Aktivitäten erhielt er vom Staat das Recht, eine Bierbrauerei zu betreiben. Außerdem ist er Sindelfinger Stadtpfleger (= Finanzbürgermeister) bis zum Rücktritt in den kurzen Wirren der 48er Revolution. (Er hat  da sicherlich zu den liberalen Kräften gehört, die in Sindelfingen relativ stark waren.)

Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, dass er als Aufwertung seines neuen Hauses das nette Türmchen an der NW-Ecke des Gebäudes anbauen ließ. (Restaurator Lech Accordi weist den Turm ins 19. Jahrhundert, auf der Urkarte von 1830 ist der Turm schon eingezeichnet.)

Carl Friedrich Leonhardt verstarb 1857 und keiner seiner drei überlebenden Söhne hat das Haus übernommen, sondern es wurde durch den Sohn Gustav an Johann Jacob Burger, einen Sindelfinger Leinwandhändler, verkauft. Damit erhielt das Haus eine neue Funktion…

 

22 Juni 2024

Der Auftakt der Poetischen Orte: ein Taubenschlag

 

Der Taubenschlag im schönen Propsteigarten

Fünf „Poetische Orte“ hat die Initiative „Kultur am Stift“ in der Sindelfinger Innenstadt initiiert. Künstlerinnen und Künstler haben sich darauf eingelassen, auf einen vergessenen kulturhistorischen Ort künstlerisch zu reagieren. Eine Idee, auf die uns der italienische Schriftsteller und Künstler Tonino Guerra gebracht hatte. Er hatte so formuliert: „Poetische Orte sind sichtbare Gedichte, sind Stätten, an denen sich weitere Dimensionen öffnen. Diese Faszination nennt ein Dichter manchmal magisch.“

Einen allerersten Versuch haben wir mit einem Taubenschlag im Propsteigarten neben der Martinskirche angepackt. Die Erinnerung an die Welt des Chorherrenstifts und des Kloster sollte durch ein „Kolumbarium“, geweckt werden. Denn mit dem Taubenschlag, wie es ihn früher an fast allen Klöstern gegeben hat, manchmal sogar in Kapellen integriert, traf sich das Symbol des Heiligen Geistes und des Friedens mit materiellen Zwecken, bei denen es um den „Taubenbraten“ und die Gewinnung von Taubendünger ging. Manchen der Bauten gab man sogar eine prächtige Architektur.

Am Anfang unserer Thematik stand also noch nicht die künstlerische, sondern die handwerkliche Umsetzung; sagen wir: Das Engagement und die Handwerkskunst des Jürgen Wald. Das Bild zeigt es: Der Propsteigarten wurde so gestalterisch wie kulturhistorisch aufgewertet und motivierte so die Gruppe „Kultur am Stift“, aber auch die Stadtverwaltung, die Idee der „Poetischen Orte“ weiter zu verfolgen.

Jürgen Wald beim Aufbau des Taubenschlags (Fotos: phil)

Webereigeschichte Sindelfingen: Die "wilde Zeit" am Beispiel des Gebäudes Leonberger Straße 2

Mittlerweile ist die eigene Textil- und Webereigeschichte in Sindelfingen wieder ins Blickfeld geraten. Aber um welche Dimensionen es dabei ging, ist doch noch immer nicht ganz ins Bewusstsein gedrungen. Deshalb schauen wir uns unter dem Titel „Die wilde Zeit der Sindelfinger Webereigeschichte“ einmal die Geschichte des Hauses Leonberger Straße 2 an, die zwar noch heute vom Namen Wilhelm Dinkelaker dominiert wird. Aber dem genauen Betrachter flattern alleine als Besitzer und Mieter dieses Hauses die Namen Haid und Spring, Dörr, Graser, Grässle, Schlegel, Wizemann, Knaebel, Kazenwadel und Sandel um die Ohren und Augen. Welche Turbulenz, welche Schicksale tun sich da auf! Und welche Vielfalt der Produkte: Seide, Korsetten, Baumwollwaren wie Piquéstoffe, Tapisseriewaren, Stramine und Nesselwaren. Schauen wir uns das Gebäude also etwas genauer an und bedenken dabei, dass es hier um eines von mehreren Sindelfinger Beispielen geht...

·        1833 Fertigstellung des Gebäudes Leonberger Straße 2 als Cholera-Krankenhaus.

Das Haus von 1832 in seinem Zustand in den 1980er Jahren als Jugendhaus (Ausriss aus der SZBZ von 1988)

·        1835 Haid & Spring, Stuttgarter Seidenwarenfabrikanten mit einem Geschäft in der Königstraße, kaufen das Haus und verlegen ihre Produktion nach Sindelfingen.

·        1840 Conrad Dörr ist hier der Werkmeister; er stammt aus Hanau, einer Stadt mit großer Seidenwebereitradition, ist ausgebildet in der „Seidenhauptstadt“ Krefeld; erste Jacquard-Stühle werden in der Sindelfinger Manufaktur aufgestellt.

·        Um 1850 gibt es eine enorme wirtschaftliche und politische Krise in Württemberg; Steueransätze müssen erniedrigt werden; hohe Auswanderungsrate.

·        1854 Spring steigt aus dem Geschäft aus und produziert in Stuttgart weiter; sein Werkmeister ist Conrad Dörrs Sohn Carl.

·        1858 auch Haid stellt nach manchen wirtschaftlichen „Abwechslungen“ den Betrieb ein; Werkmeister Dörr macht nun in wenigen Räumen alleine weiter.

Anzeige im Böblinger Boten ca. 1858

·        1860 kauft die Stadt das Gebäude an für einige Krankenzimmer und zwei „Irrenlokale“; Conrad Dörr kündigt daraufhin und zieht sich in die Seemühlestraße zurück; sein Sohn Carl Dörr scheitert mit einem Mietvertrag.

·        1862 werden die Zünfte in Württemberg aufgehoben: Es entsteht eine freie Konkurrenzsituation.

·        1862 gibt es neue Vermietungen: der Korsettweber Christoph Graser belegt Räume, auch die Göppinger Korsettfabrik Steinhardt, Herz & Cie mietet sich ein; zwei weitere Säle belegt der aus Horb stammende Piquéwarenfabrikant Fidel Leopold Gräßle.

·        1863 Gräßle „entweicht“ nach Konkurs über Nacht und hinterlässt die gesamte Ausstattung (mit Webstühlen, Kleidung, Geschirr und dänischer Dogge), was alles versteigert wird.

Anzeige im Böblinger Boten 1863

·        1863 Wizemann & Schlegel (Baumwollwaren) aus Stuttgart kaufen nun das für die Stadt „zu große“ Haus um 9500 Gulden; die Krankenzimmer müssen geräumt werden; neben Schlegel sind die Brüder Johannes und Martin Wizemann Besitzer.

·        1865 steigt „Associé“ Johann Knaebel, der aus dem Badischen stammt, ins Geschäft ein, der aber bald wieder aussteigt; auch Schlegel steigt aus und kauft das Gasthaus „Schwanen“ am Rathaus

·        1869 verkauft das Brüderpaar Wizemann das Haus für 12500 Gulden an die Firma Kazenwadel & Sandel Tapisseriewaren; Johannes Wizemann produziert in der Unteren Vorstadt 11 weiter (tituliert als Fabrikant, Kaufmann, Gemeinderat, Vorstand des Gewerbevereins und der Pietistengemeinde).

·        1874 tritt Kazenwadel aus der Firma aus; Sandel macht relativ erfolgreich alleine weiter und erweitert den Gebäudekomplex; zeitweise100 Beschäftigte.

·        1885 Sandel vergrößert weiter (neuer Bahnhof in Böblingen bringt Aufschwung!), übernimmt sich aber und geht in Konkurs; verlässt Sindelfingen.

·        1885 kauft der auch in Frankreich ausgebildete Sindelfinger Wilhelm Dinkelaker um 31500 Gulden alles Verbliebene (u.a. 42 Webstühle) auf, mechanisiert 1888; die Firma entwickelt sich als Jacquard-Weberei zu einem „Spitzenplatz gehobener Weberei“.

·        1910 völlige Mechanisierung und erhebliche Erweiterungen.


Briefkopf der Firma Dinkelaker (der Bau von 1832 steht ganz rechts in der Zeichnung; hinten rechts die Martinskirche; Original im Stadtarchiv)

Belegschaft der Firma Dinkelaker im Jahre 1900 (Stadtarchiv)

·        1959 Nach einer 75jährigen Erfolgsgeschichte: Aufgabe und Abriss aller Fabrikationsgebäude; Übernahme des Geländes durch die Stadt Sindelfingen, die dort eine Realschule errichtet; der älteste Bau bleibt als Stadtverwaltungsgebäude allerdings bestehen, wird zeitweilig Jugendhaus und dann ans Landes-Lehrerseminar vermietet (noch heutige Situation).


23 April 2024

 Genesis Kapitel 1, Vers 1

Es wird wohl ein Geheimnis bleiben, wie in das Dachgeschoss des schönen Fachwerkhauses in der Stiftsstraße neben den netten floralen Ausmalungen ein Text geraten ist, der uns verblüfft. Wer genau hinschaut, erkennt nämlich hebräische Schriftzeichen, noch gut lesbar erhalten.

florale Ausmalung unterm Dach
(Foto: G. Plott)


Das Haus in der Stiftstraße. Unter dem Dach die
hebräische Schrift. (Foto: Philippscheck)



















Welcher Text hier begonnen wurde, ist sogar angegeben: Es sind die allerersten Worte des Alten Testaments, also „Genesis Kapitel 1 Vers 1“. Wer hat diesen Text in Hebräisch, also der „Urform“ des Alten Testaments, an die Wand geschrieben oder schreiben lassen? War der Raum unter dem Dach eine kleine Studierstube, die man mit Pflanzenmotiven wohnlich gemacht hat?

der hebräische Text - die ersten drei Worte - auf dem Putz; darunter Textteil 
mit den Worten "Wasser" und "Erde" (Foto: G. Plott)
zum Vergleich: ein gedruckter Text (von rechts nach links zu lesen; Wikipedia)

Wir können nur vermuten. Das Haus wurde 1681 an Stelle eines ehemaligen Chorherrenhauses neu erbaut und 1692 an die Stadt Sindelfingen verkauft, die es als Lateinschule nutzen wollte. Aber schon wenige Jahre später hat es der damalige Sindelfinger Pfarrer Matthäus Roschitz erworben, dessen Epitaph aus dem Jahr 1700 sich an der inneren Nordwand der Martinskirche erhalten hat. Er hat sich bei seinem Theologiestudium - wahrscheinlich in Tübingen - natürlich mit der hebräischen Sprache beschäftigen müssen, weil sie neben Altgriechisch und Latein zur Sprache des frühen Christentums gehört. Denn das entstand in einem Umfeld, in dem – so hieß es - das Hebräische als gehobene Sprache der Synagoge und des Tempels, das Griechische als internationale Gelehrtensprache und das Lateinische als Verwaltungssprache der Römer verwendet wurden.

Luther befand die Hebräische Sprache als „die allerbeste und reichste in Worten, rein, heilig“ und unerlässlich für die Schriftauslegung. Denn Gott habe das Alte Testament in Hebräisch, das Neue auf Griechisch verfasst. (Diese seine Einschätzung bedeutete nicht, dass Luther das Judentum wertschätzte. Er hielt die jüdische Auslegung der alttestamenta-rischen Schöpfungsgeschichte für völlig falsch und versuchte vehement, sie zu widerlegen.)

Großen Einfluss auf die Anerkennung des Hebräischen im deutschen Kulturkreis hatte zuvor schon das schwäbische Genie Johannes Reuchlin, der als Humanist, Philosoph, Jurist und Diplomat engen Kontakt zur italienischen Renaissance-Welt in Florenz und Rom hielt. Beeinflusst war er zum Beispiel vom berühmten Pico delle Mirandola, der sehr mutig für eine Vereinigung von Griechentum, Judentum und Christentum plädierte. Reuchlin warb intensiv dafür, das jüdische Schrifttum ernst zu nehmen und es vor der Inquisition zu verteidigen. Unterstützt wurde er dabei von seinem Mentor Johannes Vergenhans, den ehemaligen Sindelfinger Chorherrn. Das Motto der Humanisten hieß dabei „ad fontes“, zurück zu den Quellen des Wissens, zum Beispiel zum hebräischen Alten Testament.

Reuchlin-Münze zum 400. Todestag 1922
von Ernst Barlach (Wikipedia)

Ausschnitt aus der Seite eines Talmud-Textes; eines der vielen hebräischen Originaldokumente,       die Reuchlin gesammelt hatte (Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Reuchlin 2)

Reuchlin konnte 1521 in Tübingen für eine Lehrtätigkeit in Griechisch und Hebräisch angeworben werden, bestellte dazu 100 hebräische Bibeln aus Venedig und rief begeistert aus: „Die Wahrheit wird ausgehen von diesem Lande!“. Die Studenten strömten nach Tübingen, aber Reuchlin starb schon nach kurzer Lehrtätigkeit in Liebenzell, wurde in der Stuttgarter Leonhardskirche begraben. Trotz dieser Situation blieb das Hebräische in einem Auf und Ab seit dieser Zeit Teil der Tübinger Theologenausbildung. Gehört unser Sindelfinger Text in diesen Zusammenhang?


Auf alle Fälle wissen wir: Unser kleiner Text an der Wand eines eindrucksvollen historischen Sindelfinger Hauses ist zwar ein winziger Mosaikstein im großen Bild der allgemeinen kulturhistorischen Entwicklung, aber trotzdem aussagekräftig und Anlass, über komplexe Aspekte der europäischen Geistesgeschichte nachzudenken.


20 April 2024

 Das Zunftzeichen „Brauerstern“

Ein trauriges Kapitel beim Thema Altstadt. Zwar soll sie weiter entwickelt und so für Bewohner und Besucher attraktiver werden – aber dann gibt es Entscheidungen der Stadtverwaltung, die dieses Ziel konterkarieren. Ein solches Beispiel gibt es in der nördlichen Altstadt, die Lange Straße 29 betreffend. Hier hätte ein Haus saniert werden können, das als eher französisch/klassizistisch um 1805 einen neuen Stil in die alte Stadt gebracht hat. An der Langen Straße gelegen, also der alten Sindelfinger „Hauptstraße“, gleich hinter dem Oberen Tor, das noch stand, als dieses Haus gebaut wurde.


Das Haus Lange Straße 29, historische
Aufnahme (Stadtarchiv)
Abriss des Hauses 2024 (Foto: phil)










Wir wollen dazu eine Besonderheit erwähnen, die, wäre sie durch eine Sanierung gerettet worden, einen interessanten Zwischenstopp bei Stadtführungen ergeben hätte.

Alte Sindelfinger kennen das Haus noch als Bäckerei und als Gastwirtschaft „Bürgerstüble“, ein einfaches Lokal, in dem auch selbst gebrannter Schnaps ausgeschenkt wurde. Wie hieß es: Da hätten die Weltverbesserer diskutiert. Der Wirt hat auch Geld verliehen, wird auch erzählt. Und eine weitere Besonderheit waren  - allerdings weit vor dem Krieg – die Fensterscheiben mit ihrer Gravur: Das Zunftzeichen der Brauer und Brenner, der eigenwillige „Brauerstern“, ergänzt mit Obst - zum Brennen -  und Lorbeerverzierung. Ein mögliches Problem im Dritten Reich: Der „Brauerstern“ ist genauso aufgebaut wie der jüdische Davidsstern, zwei ineinander geschachtelte Dreiecke, die je symbolische Bedeutungen haben.


Zwei von vier geretteten Fensterflügeln des "Bräustübles" im 
Stadtmuseum (Foto: phil, mit Dank ans Museum)
"Brauerstern": Eine Theorie
geht davon aus, dass der Brauerstern
einmal die für das Brauen wichtigen
drei Elemente (Feuer, Wasser und
Luft) symbolisiert und zum anderen
die im Mittelalter bekannten Zutaten
(Wasser, Malz und Hopfen) bezeichnet
 (die Hefe als Brauzusatz fehlte damals
noch), so dass sich insgesamt
die sechs Zacken des Brauersterns
damit erklären.
(wikipedia) 

Es bleibt zu vermuten, dass die Fenster in der Zeit des Dritten Reichs ausgebaut, dabei aber nicht zerstört, sondern in einer nahe gelegenen Scheuer gelagert wurden. Da sind sie vor wenigen Jahren wieder entdeckt worden und harren jetzt im Stadtmuseum wieder einer Zukunft im Sonnenlicht. In ihrem sanierten Haus hätten sie - wieder eingebaut - etwas über Sindelfinger Geschichte erzählen können. Jetzt bleiben sie zwar interessante, aber isolierte Museumsstücke.

 

30 März 2024

Magische Welten

Kümmern wir uns heute noch einmal um die magischen Welten in der alten Stadt. Man kann davon ausgehen, dass man früher beim Gang durch die Altstädte an den Häusern eine Vielzahl von Malereien, Schnitzereien und steinernen Formen gesehen hat, die Symbole für Wünsche, Hoffnungen, Beschwörungen waren. Böse Kräfte sollten so gebannt werden.

In Sindelfingen sind fast alle solcher Zeichen sind verschwunden: Der Verputz, den viele Häuser erhalten haben, hat damit natürlich zu tun; der Wert der alten, intensiv bewohnten Fachwerkhäuser war gesunken; dadurch verloren ihre ästhetischen Dimensionen stark an Bedeutung, die Schönheit eines Hauses war kein bedeutsames Kriterium mehr; und schließlich wurden auch - vor allem dann im 19. Jahrhundert - ganz offiziell rationalere Sichtweisen von der Bevölkerung erwartet: eine Folge der Aufklärung.

Funktionale und rationalere Bauweisen vor allem der Nachkriegszeit aber verzichteten ganz auf zusätzliche Gestaltungsmomente, ob bei privaten oder öffentlichen Bauträgern. Es dauerte eine ganze Weile, bis dies als Verlust erlebt wurde und die Sanierung alter Häuser nicht mehr als nutzlose Geldausgabe verstanden wurde. Trotzdem: Fassaden mit ganz persönlichen Äußerungen zu schmücken, ist äußerst selten geworden, wahrscheinlich, weil man sich nicht mehr sicher ist, ob Betrachter dies als positiv empfinden.

Es ist ein neuer Entwicklungsprozess, zu erkennen, dass Architektur nicht nur aus Stein, Holz und Beton besteht, sondern auch aus Träumen, Mythen und Geheimnissen. Schauen wir uns dazu die Sindelfinger Beispiele an, die heute als Kleindenkmäler gewertet werden.


Das wunderbar sanierte Haus Lange Straße
25 mit seinem Restaurant "Drei Mohren". 
Der "Wilde Mann"  ist ganz oben im
spitzen Giebel zu finden. Dass er kaum
zu sehen ist, stört nicht seine
Schutzfunktion. (Foto: phil)

Der "Wilde Mann" setzt seine Kräfte 
zum Schutz für Haus und Hof ein.
Hier sehen wir ihn, als er bei der
Sanierung des Hauses nach
langer Dunkelheit wieder das
Tageslicht erblicken kann. (Foto: phil)
Zwei wunderbare Stücke vom ehemaligen Haus Lange Straße 44, 
das im Krieg leider zerstört wurde. Das Haus wurde 1698 vom
Büchsenmacher und Waffenschmied Johann David Renner gebaut. 
Die zwei Hauspfosten wurden aus der Ruine gerettet und
stehen im Stadtmuseum. Der linke Pfosten zeigt die damals
sehr beliebte mythische Figur der Melusine, einer Nixe. (Foto: phil)

Das im Krieg zerstörte Haus Lange
Straße 44. Die Pfosten saßen im
ersten Stock. (Foto: Stadtarchiv)


Titelseite einer Ausgabe der
Melusine-Sage vom aus
Sindelfingen stammenden
Pfarrer Ottmar Schönhuth.
(Buch im Privatbesitz.)
Aus der Eckkonstruktion des Hauses Untere Burggasse 3
schaut ein sogenannter Neidkopf herunter. Er will dem
herandrängenden bösen Mächten sagen: "Das Haus ist
besetzt, zieht weiter, woanders hin." (Foto: phil)


18 März 2024

 Eine ganz spezielle Sonnenuhr

an der Südseite des Turms der Martinskirche (Collage: phil)

An der Südseite einiger sehr alter Kirchen findet man selten noch eine seltsame, kleine Sonnenuhr: ein Halbkreis, durch drei (manchmal mehr) Linien unterteilt. Ihre sehr regelmäßige Form, die nicht dem jeweiligen Standort angepasst ist und also keine „Uhrzeit“ ablesen lässt, verweist auf einen symbolischen Charakter: Es dreht sich um eine „Kanonische Sonnenuhr“. Und solch eine besitzen wir tatsächlich auch in Sindelfingen – an der Südseite des mächtigen Kirchturms der Martinskirche. Man muss aber sehr genau hinschauen.

Was ist nun die Funktion einer „Kanonischen Sonnenuhr“ gewesen?

Sie gehört in ein klösterliches Umfeld und verweist auf die klösterliche Zeitordnung. Diese geht auf die Regeln des Klosters auf dem Monte Cassino in Italien zurück, die Benedikt von Nursia um das Jahr 540 nach Christus aufgestellt hat und die zu einer allgemeinen Regel wurde. Sieben über Tag und Nacht verteilte Gebete der Mönche sollten an die Passion Christi erinnern. Die Kanonische Sonnenuhr setzt bei Sonnenaufgang oder etwas später ein: Da war die PRIM zu beten, bei Sonnen-untergang verweist die Sonnenuhr auf die VESPER. Die drei dazwischen verbleibenden Gebete werden in Dreistundenabständen, genannt hora tertia, hora sexta und hora nona, angezeigt. Die Sonnenuhr verweist also logischerweise auf die fünf Tagesgebete.

die Sindelfinger Sonnenuhr (Foto: phil)


Kanonische Sonnenuhr, 4er-Teilung, Reutte/Tirol (Foto:
Wikipedia, K.Schwarzinger)

Diese Pflichten nie zu vergessen ermahnt also unsere symbolische Sonnenuhr. Verstärkt wurde dieser Hinweis durch einen kleinen Stab, der mit seinem wandernden Schatten an die vergehende Zeit erinnert. (Deshalb die Lage an der Südseite der Klosterkirche.) Das kleine Loch für den Stab ist an der Sindelfinger Turmwand noch zu sehen; dass die kleine Sonnenuhr dort fast 500 Jahre – also seit der Auflösung des Klosters - ohne Funktion überlebt hat, ist ein kleines Wunder. Eigentlich ist sie wohl so alt wie der Turm, also 900 Jahre, und es ist angemessen, beim Vorübergehen einen Blick auf sie zu werfen.

01 März 2024

Die borromäischen Ringe in Sindelfingen

Die Villa Wittmann ist das einzige Gebäude in Sindelfingen, das eine großbürgerliche Struktur aufweist. Dazu passt es, dass der kulturelle Anspruch der Familie Wittmann an ihrer Hausfassade auch gezeigt wird – so wie man das traditionell von Gebäuden stolzer Kaufmannsfamilien kennt. Wir erkennen dies an der großen Kartusche auf der Fassade zur Bachstraße hin.

die borromäischen Ringe an der Villa Wittmann (Foto: phil)

Die Ringe (Wikipedia)
Heute betrachten wir einen Gestaltungsaspekt näher. Der zeigt uns oben auf der Kartusche drei ineinander verschlungene Ringe, die man leicht übersieht. Es geht dabei aber um die drei berühmten borromäischen Ringe - eine uralte Symbolform, die aus drei Ringen besteht, die so ineinandergreifen, dass sie sich durch keinerlei Versuch voneinander trennen lassen. Durchtrennt man aber einen der Ringe gewaltsam, so fallen die beiden anderen immer auseinander. Wegen dieser eigenwilligen Eigenschaft wurden diese Ringe zum Symbol der besonderen Stärke, die in der Einheit liegt und zur Illustration dessen, was passiert, wenn ein Glied aus einer engen Vereinigung entfernt wird. Eine Mahnung an die Mitglieder einer Familie oder einer Vereinigung.

das Wappen der Familie Borromeo,
Ringe oben rechts 
(aus: "Pinterest")
Die Ringe sind nach der italienischen Adelsfamilie Borromeo benannt, deren heutiger Besitz unter anderem die drei borromäischen Inseln im Lage Maggiore umfasst und die die drei Ringe in ihrem Wappen führt.

unsere "borromäische Villa" in Sindelfingen
(Zeichnung: Philippscheck)

Die Ringe haben wegen ihrer Eigenschaft auch Wissenschaftler fasziniert, besonders die Mathematiker. Psychologen sehen in ihnen das Imaginäre, das Symbolische und das Reale. Und wir freuen uns, dass uns eine künstlerische Ergänzung der Fassade der Villa Wittmann in solche kulturhisto-rischen Dimensionen führt.

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