17 Februar 2024

Sindelfinger Kleindenkmale:

Metallschild der „Phönix“-Feuerversicherung

das Erdgeschoss des Storchenhauses (Foto: phil)

Früher hing an einem der großen Fensterläden im Erdgeschoss des Storchenhauses ein kleines Schild. Es war leider mit der Farbe der Läden übermalt worden und also schlecht zu erkennen. Das war deshalb schade, weil das kleine Schild ein Kleindenkmal ist: Es zeigte an, dass dieses Haus feuerversichert gewesen ist, und zwar bei der „Londoner Phönix“, einer berühmten englischen Versicherung, die schon 1782 gegründet worden war. Die Bedeutung der Feuerversicherung war natürlich riesig, weil die Feuergefahr in früheren Zeiten enorm war:   Man denke etwa an die verheerenden Brände in London oder Hamburg, in anderem Maßstab natürlich auch bei uns. Aber es dauerte trotzdem, bis sich das Versicherungsprinzip der Gegenseitigkeit allgemein durchsetzen konnte.

Das Feuerversicherungsschild am Fensterladen (Foto: phil)

Sah das Schild einst so aus? (Abb.: Wikipedia) 

„Phönix“ war eine privatrechtliche Versicherung, die nicht ein Haus selbst, sondern vor allem das Inventar versicherte. Diese „Erfindung“ der Phönix war noch Anfang des 19. Jahrhunderts außergewöhnlich, weil zum Beispiel die württembergische Zwangs-Feuerversicherung durch die herzogliche „Brand-Schadens-Versicherungs-Anstalt“, die es seit 1773 gab, keinen Hausrat mitversicherte und auch keine Elementarschäden abdeckte. So hatte sich die „Phönix“ in deutschen Landen eine Monopolstellung erobert, die ihr hohe Beiträge und Gewinne ermöglichte.

Originaler Versicherungsschein der "Phönix" (Privatbesitz)




Das forderte deutsche Kaufleute heraus und 1820 wurde zum Beispiel mit der „Gothaer“ eine erfolgreiche deutsche „Feuerversicherungs-Bank“ für den Handelsstand gegründet. Dass die englische „Phönix“ aber noch immer im Spiel blieb, sehen wir am erwähnten Schild. Solche Schilder waren in Württemberg ab 1830 sogar Pflicht: „Jeder Eigentümer, der sein bewegliches Vermögen versichert hat, hat das Schild an seinem Gebäude auf eine für Jedermann sichtbare Weise anzuheften". Ein Grund dafür war unter anderem, dass dadurch Doppelversicherungen ausgeschlossen wurden, die Anreize zur Brandstiftung gaben. Aber auch der Werbeeffekt war nicht zu unterschätzen.


Versicherungsordnung Herzogtum
Württemberg von 1773 (Google books)

Nachdem sie die Genehmigung erhielten, auch Mobiliarversicherungen abzuschließen, schafften sich später auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten solche Feuerversicherungsschilder an.

Schade ist es in unserem Sindelfinger Fall, dass das Schild, das auf solche historischen Aspekte hinweisen kann, also ein Denkmal ist, wohl zur Sanierung abgenommen worden ist, die Hausverwaltung sich aber nicht darum gekümmert hat, dass es wieder angebracht wird. Das ist sehr schade, weil Sindelfingen nicht reich an Kleindenkmalen ist, die oft auf besonders interessante Alltagsstrukturen hinweisen.

Zusatz. Kulturhistorisch interessant ist folgende historische Einschätzung: In katholischen Ländern wurde bei Brandschäden zu Spenden aufgerufen, auch die Kirche schoss eine Summe zu. In calvinistisch geprägten Ländern wurde die Feuerversicherung dagegen als Initiative verstanden, bei der der positive Zweck mit gutem privaten Gewinn verbunden ist. Die lutherischen Gebiete dagegen schafften öffentlich-rechtliche Strukturen auf Gegenseitigkeit (siehe Württemberg).


13 Februar 2024

Gespräch am Marktbrunnen

Eine Szene von „Kultur am Stift“ mit 3 Personen:                                       Prof. Zeitler, der Künstler                                                              eine Fragenstellerin                                                                    eine Anthroposophin

 

Grüß Gott. Herr Zeitler, sagen Sie uns hier doch bitte…

Herr Professor Zeitler bitte!

Professor Zeitler (Bild Stadtarchiv)

Gut, so sei es dann. Herr Professor, sagen Sie uns also bitte hier etwas zu Ihrer Gestaltungsidee, diesen Brunnen betreffend. Sie hatten sich ja zu diesem Gespräch bereit erklärt.

Ja, nun gut. Gut. Aber bitte, wer ist die Dame hier?

Grüß Gott! Also, das ist so: Ich war immer schon überrascht und auch erfreut über diese vier Köpfe hier oben und würde gerne die Gelegenheit nutzen, um Sie…

Halt! Nein, erst ich. Die erste Frage natürlich zu ihren beiden Schwätzweibern hier oben. Wie kamen Sie denn zu…

Also erst einmal und zum wiederholten Male, meine Dame! Ich mag diese Begrifflichkeit nicht. Schwätzweiber! Das ist wirklich Geschwätz. Es geht um mehr, es geht um Tieferes - wenn auch im, nun ja, profanen Kontext des Marktes, der hier stattfindet.

Profan sagen Sie?

Streiten wir nicht um Worte! Sagen wir… volkstümlich…

Gut. Der Markt hat doch schließlich eine sehr große Bedeutung. Nicht nur, um einzukaufen. Er hat eine geradezu soziale Funktion für die kleine Stadt.

Ja eben, eben. Darum geht´s. Das wollte ich ja auch thematisieren mit meiner künstlerischen Arbeit. Deswegen habe ich sie „Das Geheimnis“ genannt.  „Das Geheimnis“. Verstehen Sie? Das ist mehr, das ist – tiefer. Psychologischer. Nicht einfach nur platt humoristisch!

Ja, ich verstehe, gut. Ich will aber - verzeihen Sie - auch kritisch fragen: Ist nicht die etwas grobe Form der Figuren schuld daran, dass die Sindelfinger einen solchen Namen…

Hören Sie auf! Schauen Sie sich doch meine Werke an! In Stuttgart am Eberhardsbau, am Kunstgebäude von Theodor Fischer, der viel geliebte Hans-im-Glück-Brunnen. Und unendlich viele andere. Alles anerkannte Meisterwerke! 

Ja, gut, und? Was hat das mit…

Wer hat das hier denn hergestellt? Bitte? Der Sindelfinger Gemeinderat wollte ja nichts zahlen! Etwas Künstlerisches, ja, ja! Aber es soll nichts kosten! Da hatte dann der Sindelfinger – wie soll ich ihn nennen? – Steinhauer oder meinetwegen Steinbildhauer, also der Schäfer seine Finger im Spiel. Der kann doch nur grobe Formen! So sieht´s hier dann eben aus, wenn man sparen will.

Also, das sehen wir Sindelfinger aber etwas anders. Denn unser Schäfer, der…

Aber bitte! Bitte! Wir haben wenig Zeit. Lassen Sie mich doch jetzt endlich noch etwas zu den vier Köpfen fragen. Auch die Buchstaben darunter zeigen es ja, Professor Zeitler: Sie haben hier die vier menschlichen Temperamente thematisiert.

 Ja, ganz richtig. Das hat mit... Übrigens - diese Köpfe hat Ihr Bürgermeister in einem Brief „Charakterfratzen“ genannt. „Fratzen“! Sindelfingen!

Brief von Zeitler an den Bürgermeister Hörmann, 1927. Der Brief kam aus Lugano. (Stadtarchiv)

Also, was mich da interessiert ist nun…

Das hat natürlich mit dem Thema Menschen auf dem Markt zu tun. Verstehen Sie? Ich als Künstler verstehe meine Arbeit doch tiefer, grundsätzlicher. Ich hatte den Sindelfingern auch einen „Brunnen der Tugenden“ vorgeschlagen; den wollten sie ja nicht. Einen „Brunnen der fünf Sinne“ -  auch nicht! Merken Sie etwas? Na?

Und die vier Temperamente?

Ach, das hat doch überhaupt niemand wahrgenommen. Ich glaube bis heute nicht.

Wie kamen Sie denn auf die vier Temperamente? Denn die sind doch…

Das habe ich doch schon…

Nein, nein. Haben Sie noch nicht! In Ihren Worten: Das ist doch tiefer gehend.

Also nochmal gefragt. Soviel ich weiß: Die uralte Temperamentenlehre vertritt doch niemand mehr, Professor Zeitler…

Das ist doch jetzt das Thema! Wie kommen Sie, Professor Zeitler, dazu, den Phlegmatiker, den Sanguiniker, den Choleriker und den Melancholiker hier darzustellen? Hier an diesem Brunnen! Das interessiert mich! Kennen Sie denn Rudolf Steiner?

Die vier Temperamente (bei "Anthrowiki")

Ja, ja, als Stuttgarter Künstler kenne ich den Anthroposophen Steiner natürlich. Seine erste Waldorf-Schule steht ja seit einiger Zeit in Stuttgart. Er war oft da, er ist künstlerisch sehr interessiert. Mag sein, dass ich da von mancher dieser Diskussionen um ihn schon beeinflusst worden bin und…

Und er arbeitet ganz dezidiert mit den vier Temperamenten! Er hat da auch Goethes Ideen wieder aufgegriffen.  Er redet von der viergliedrigen Wesenheit, die mit den Temperamenten einen Zusammenhang bildet. So wie Paracelsus!

Aha, Paracelsus!  Ja, genau! Schön gesagt. Sehr schön. Ich bin überrascht. Also, das Viergliedrige...

…von dem physischen Leib, dem Ätherleib, dem Astralleib und schließlich vom eigentlichen menschlichen Ich. Nur, wenn man auf diese ganze Wirklichkeit sieht, zu der auch das Geistige gehört, wenn man nicht bloß bei dem sinnlich Wirklichen bleibt, kann aus der Erkenntnis Lebenspraxis folgen. Sagt Steiner.

Aha! Sagt der Steiner. Nun, ich freue mich, dass mein Marktbrunnen, um den so viele Menschen sich bewegen, eine solche Nachdenklichkeit bewirkt. In solche Welten führt! Trotz allem. Bin überrascht.

Was reden wir denn hier? Wir denken alle, dass dies doch nur der Schwätzweiber…, äh, Marktbrunnen ist. Er hat also ein Geheimnis oben drauf.

Halt! Ich bin am Überlegen. Das gefällt mir, hier nicht nur ein kleines, neugierig besprochenes Geheimnis zu sehen, sondern ein viel größeres, das hinter dem Muschelkalkstein verborgen ist: Das Geheimnis des Lebens!

Na, ich weiß nicht! Wegen der vier Köpfe! Ist das nicht ein bisschen…Also…

Mir gefällt diese Idee! Das Geheimnis!

Sehen Sie! Sehen Sie! Ich habe es doch dem Schultheiß Hörmann geschrieben. Dieser Brunnen gehört zu den originellsten Brunnen Deutschlands. Habe ich ihm geschrieben! Und er, und er - hat darauf nicht geantwortet!

Also, Sie sind aber ein - Choleriker!

Wieso denn? He! Wieso?

)
Charakterkopf "C" = Choleriker am Brunnen (Foto: phil)


Zukunftsvision vom gestalteten Brunnen (Bild: Klaus Philippscheck)





11 Februar 2024

Martinskirche Frage 2: 

Christian von Leins versetzt die Eingangstür der Martinskirche um wenige Meter. Welche Theorie steht dahinter?

von Klaus Philippscheck

Immer, wenn ich Besucherinnen und Besucher an die südliche Außenseite der Martinskirche führe, mache ich sie auf eine Veränderung der Eingangssituation aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam. Helle Steine zeigen, dass einst das Eingangsportal ein paar Meter weiter westlich gelegen hat. Und so stellt sich dann die Frage, wer hier wann und warum diese aufwendige Entscheidung getroffen hat.

Christian Friedrich von Leins
1814 - 1892 (Wikipedia)

Manche Gäste haben schon einmal gehört, dass der königlich württem-bergische Baumeister Christian von Leins bei seinen  Sanierungsarbeiten um 1863/64 auf der Südseite ein altes gotisches Häuschen abreißen ließ und dass hinter der darauf folgenden Versetzung des Eingangs eine Idee stand: Leins wollte die Grundstruktur der romanischen Architektur mit ihrer hohen Bedeutung der Symmetrie in Wert setzen - und der mittelalterliche Zugang in die Kirche lag nicht in der Mitte der vor Leins liegenden Kirchenschifffassade. Das war für Leins, dem bedeutenden Architekten des Historismus, ein derart wichtiges Problem, dass er einen neuen, jetzt zentralen Eingang in die Wand einbrechen ließ. Konsequenterweise wurde genau ein solcher Eingang von ihm auch in die Nordseite des Kirchenschiffs gesetzt - gespiegelt, symmetrisch.

Dass die Symmetrie gerade in der romanischen Architektur eine grundlegende Bedeutung hatte, ist eine richtige Einschätzung von Leins: Die Symmetrie stand zusammen mit den Formen des Kreises - auch des romanischen Halbkreises - für göttliche Ordnung und Struktur, Stabilität und Perfektion. Ausgehend von Platons Aussage "Gott treibt Geometrie" war es dann der christliche "deus geometra", der die Ordnung und die Schönheit des Kosmos geschaffen hat.

So weit wohl die Überlegungen unseres Architekten Leins, und sie scheinen stimmig zu sein. Aber für mich ist damit das Thema Leins noch nicht beendet, denn mich stört bei genauerer Betrachtung seiner Überlegungen eine Unstimmigkeit: Das Kirchenschiff, von dem Leins ausgeht, ist nicht mittelalterlich, sondern ein Ergebnis der Umgestaltung nach der Reformation - als die Krypta und damit der Hochchor abgerissen worden waren. Es blieb also ein viel kleinerer Chorbereich übrig, der ja im evangelischen Gottesdienst keine Funktion mehr hat.

Die Länge dieses neuen Kirchenschiffs hat Leins halbiert und dort sein neues Tor eingesetzt, um die erwähnte Symmetrie zu schaffen. Aber sie bleibt leider eine rein äußerliche Struktur, weil ja für den evangelischen Kirchenbau die Symmetrie gar keine Bedeutung mehr hat. Aber, kann man sagen, Leins wollte sie wieder als eine Form der stolzen mittelalterlichen Romanik aufgreifen.

Die Südseite der Martinskirche: Das 1864 zugemauerte Portal ist gut zu erkennen. Zur Entscheidung von Leins gehört auch das kreisrunde Fenster; auch das ein Aspekt der Symmetrie. Bitte beachten Sie am Obergaden die "einsame" Lisene. (Foto: phil)

Aber da gibt es ein Problem: Vor allem die mittelalterlichen Stiftskirchen sind keine in sich geschlossenen Baukörper. Es sind eigentlich zwei aneinander gestellte Kirchen: der Ostbereich mit erhöhtem Chor, dem Hochaltar, dem Chorgestühl; allein zugänlich für die Chorherren, die Pfarrer, die Kapläne, vielleicht mit zwei, drei Adelsplätzen. Dieser liturgische Bereich liegt abgegrenzt hinter einem hohen Lettner, der diese Welt des Klerus einrahmt, zu der übrigens auch die Laienbrüder nicht gehört haben. Vor dem Lettner gibt es dann noch den Bereich des Gemeinde- oder Kreuzaltars, an dem der Priester einen Teil der Messe zelebrierte und das Taufbecken.

Aufriss der Südseite. Violett unterlegt die "Priesterkirche", nicht viel kleiner als die gelb unterlegte Gemeindekirche. Man erkennt, dass das ehemalige Portal (rot) mittig zu diesem Kirchenteil liegt. Die Länge des heutigen Kirchenschiffs ist durch die schwarze Linie unten gekennzeichnet. (Bild koloriert aus dem "Band 4" des Landesdenkmalamts Stuttgart 1977 der "Forschungen und Berichte...")

Dieser ganze Bereich stellt die weitgehend in sich geschlossene "Priesterkirche" dar. Die Grenze dieses herausgehobenen Kirchenteils wird in Sindelfingen übrigens am Außenbau gezeigt: durch die einsame Lisene am Obergaden - siehe Foto. Ein wirkliches Unikum. Der übrige Raum im Kirchenschiff umfasst die Gemeindekirche, ohne Bestuhlung, mit weiteren Altären, immer offen durch ein Portal im Süden. Und da fällt mir auf: Wenn ich diese Gemeindekirche nehme und diesen Teil des Gesamtschiffs halbiere, dann bin ich genau an dem Ort, wo der historische Eingang, eben der durch Leins zugemauerte, sich befunden hatte. Das war die eigentliche romanische Symmetrie, die theologisch begründete; der historisch begründete Eingang in die Kirche.

Ich weiß nicht, ob dem historistischen Baumeister Leins dies bewusst war. Aber eines ist mir klar: Ihm war das perfekte "Bild der Romanik" wichtiger als theologische oder kulturhistorische Aspekte. Möglicherweise hatte er zwar eine "höhere Idee" vom Monument Martinskirche, aber wir kennen auch den sehr selbstbewussten "freien Umgang mit der Baugeschichte" im Historismus. Und ich denke lächelnd an den guten Freund von Leins, den aus Sindelfingen stammenden Pfarrer Ottmar Schönhuth: Wenn er für seine "Chronik der Stadt Sindelfingen" zur Geschichte der Martinskirche eine Sage braucht, dann schreibt er eben selbst eine. Bei ihm taucht die "Glocke im Hinterlinger See" 1864 das erste Mal auf und wir nicken freundlich. "Se non è vero, è bon trovato", sagt der Italiener: "Wenn´s auch nicht wahr ist, aber es ist sehr gut erfunden". 



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