11 Februar 2024

Martinskirche Frage 2: 

Christian von Leins versetzt die Eingangstür der Martinskirche um wenige Meter. Welche Theorie steht dahinter?

von Klaus Philippscheck

Immer, wenn ich Besucherinnen und Besucher an die südliche Außenseite der Martinskirche führe, mache ich sie auf eine Veränderung der Eingangssituation aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam. Helle Steine zeigen, dass einst das Eingangsportal ein paar Meter weiter westlich gelegen hat. Und so stellt sich dann die Frage, wer hier wann und warum diese aufwendige Entscheidung getroffen hat.

Christian Friedrich von Leins
1814 - 1892 (Wikipedia)

Manche Gäste haben schon einmal gehört, dass der königlich württem-bergische Baumeister Christian von Leins bei seinen  Sanierungsarbeiten um 1863/64 auf der Südseite ein altes gotisches Häuschen abreißen ließ und dass hinter der darauf folgenden Versetzung des Eingangs eine Idee stand: Leins wollte die Grundstruktur der romanischen Architektur mit ihrer hohen Bedeutung der Symmetrie in Wert setzen - und der mittelalterliche Zugang in die Kirche lag nicht in der Mitte der vor Leins liegenden Kirchenschifffassade. Das war für Leins, dem bedeutenden Architekten des Historismus, ein derart wichtiges Problem, dass er einen neuen, jetzt zentralen Eingang in die Wand einbrechen ließ. Konsequenterweise wurde genau ein solcher Eingang von ihm auch in die Nordseite des Kirchenschiffs gesetzt - gespiegelt, symmetrisch.

Dass die Symmetrie gerade in der romanischen Architektur eine grundlegende Bedeutung hatte, ist eine richtige Einschätzung von Leins: Die Symmetrie stand zusammen mit den Formen des Kreises - auch des romanischen Halbkreises - für göttliche Ordnung und Struktur, Stabilität und Perfektion. Ausgehend von Platons Aussage "Gott treibt Geometrie" war es dann der christliche "deus geometra", der die Ordnung und die Schönheit des Kosmos geschaffen hat.

So weit wohl die Überlegungen unseres Architekten Leins, und sie scheinen stimmig zu sein. Aber für mich ist damit das Thema Leins noch nicht beendet, denn mich stört bei genauerer Betrachtung seiner Überlegungen eine Unstimmigkeit: Das Kirchenschiff, von dem Leins ausgeht, ist nicht mittelalterlich, sondern ein Ergebnis der Umgestaltung nach der Reformation - als die Krypta und damit der Hochchor abgerissen worden waren. Es blieb also ein viel kleinerer Chorbereich übrig, der ja im evangelischen Gottesdienst keine Funktion mehr hat.

Die Länge dieses neuen Kirchenschiffs hat Leins halbiert und dort sein neues Tor eingesetzt, um die erwähnte Symmetrie zu schaffen. Aber sie bleibt leider eine rein äußerliche Struktur, weil ja für den evangelischen Kirchenbau die Symmetrie gar keine Bedeutung mehr hat. Aber, kann man sagen, Leins wollte sie wieder als eine Form der stolzen mittelalterlichen Romanik aufgreifen.

Die Südseite der Martinskirche: Das 1864 zugemauerte Portal ist gut zu erkennen. Zur Entscheidung von Leins gehört auch das kreisrunde Fenster; auch das ein Aspekt der Symmetrie. Bitte beachten Sie am Obergaden die "einsame" Lisene. (Foto: phil)

Aber da gibt es ein Problem: Vor allem die mittelalterlichen Stiftskirchen sind keine in sich geschlossenen Baukörper. Es sind eigentlich zwei aneinander gestellte Kirchen: der Ostbereich mit erhöhtem Chor, dem Hochaltar, dem Chorgestühl; allein zugänlich für die Chorherren, die Pfarrer, die Kapläne, vielleicht mit zwei, drei Adelsplätzen. Dieser liturgische Bereich liegt abgegrenzt hinter einem hohen Lettner, der diese Welt des Klerus einrahmt, zu der übrigens auch die Laienbrüder nicht gehört haben. Vor dem Lettner gibt es dann noch den Bereich des Gemeinde- oder Kreuzaltars, an dem der Priester einen Teil der Messe zelebrierte und das Taufbecken.

Aufriss der Südseite. Violett unterlegt die "Priesterkirche", nicht viel kleiner als die gelb unterlegte Gemeindekirche. Man erkennt, dass das ehemalige Portal (rot) mittig zu diesem Kirchenteil liegt. Die Länge des heutigen Kirchenschiffs ist durch die schwarze Linie unten gekennzeichnet. (Bild koloriert aus dem "Band 4" des Landesdenkmalamts Stuttgart 1977 der "Forschungen und Berichte...")

Dieser ganze Bereich stellt die weitgehend in sich geschlossene "Priesterkirche" dar. Die Grenze dieses herausgehobenen Kirchenteils wird in Sindelfingen übrigens am Außenbau gezeigt: durch die einsame Lisene am Obergaden - siehe Foto. Ein wirkliches Unikum. Der übrige Raum im Kirchenschiff umfasst die Gemeindekirche, ohne Bestuhlung, mit weiteren Altären, immer offen durch ein Portal im Süden. Und da fällt mir auf: Wenn ich diese Gemeindekirche nehme und diesen Teil des Gesamtschiffs halbiere, dann bin ich genau an dem Ort, wo der historische Eingang, eben der durch Leins zugemauerte, sich befunden hatte. Das war die eigentliche romanische Symmetrie, die theologisch begründete; der historisch begründete Eingang in die Kirche.

Ich weiß nicht, ob dem historistischen Baumeister Leins dies bewusst war. Aber eines ist mir klar: Ihm war das perfekte "Bild der Romanik" wichtiger als theologische oder kulturhistorische Aspekte. Möglicherweise hatte er zwar eine "höhere Idee" vom Monument Martinskirche, aber wir kennen auch den sehr selbstbewussten "freien Umgang mit der Baugeschichte" im Historismus. Und ich denke lächelnd an den guten Freund von Leins, den aus Sindelfingen stammenden Pfarrer Ottmar Schönhuth: Wenn er für seine "Chronik der Stadt Sindelfingen" zur Geschichte der Martinskirche eine Sage braucht, dann schreibt er eben selbst eine. Bei ihm taucht die "Glocke im Hinterlinger See" 1864 das erste Mal auf und wir nicken freundlich. "Se non è vero, è bon trovato", sagt der Italiener: "Wenn´s auch nicht wahr ist, aber es ist sehr gut erfunden". 



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