31 Dezember 2023

Sindelfinger Bilder 3

Burggasse: historisches Bild aus dem Stadtarchiv (farbig bearbeitet). Die Scheune rechts gehörte zum Haus Burggasse 5 und wurde im Krieg zerstört; sie gehörte, wie das Haus links, zum Bereich der "Burg".


Die Untere Burggasse

Schon lange wird über die Situation der Unteren Burggasse diskutiert - bisher ohne Ergebnis. Nun (Ende 2023) soll sich dies ändern. Wir schlagen vor, bei der Diskussion über neue gestalterische Strukturen auch historische Aspekte mit einzubeziehen - immerhin heißt das aktuelle Projekt offiziell "Ferkelmarkt/Burg".

Der uralte Begriff "Burg", der bis in unsere Zeit hinein überlebt hat, bezieht sich darauf, dass sich hier im Mittelalter der Gutshof befand, das heißt der herrschaftliche Hof eines großen landwirtschaftlichen Verwaltungsbereichs - also ein sogenannter Fronhof. Ein solcher Hof umfasste eine Reihe von Werkstätten und Wohngebäuden, gelegen um den eigentlichen Herrenhof herum - also den stabilen, steinernen Wohnsitz der Herrschaft.  Daher passt der Begriff "Burg", in Sindelfingen wurde  er auch einmal "Schloss" genannt.

Als die Stadt Sindelfingen 1263 gegründet wurde, wurde dieser besondere Hofbereich in die Stadtmauer mit einbezogen, aber als ein gewisser juristischer und sozialer  Fremdkörper in der Stadt wurde er logischerweise durch Grenzsteine abgesetzt. Sindelfingens Historiker Eugen Schempp zeigte auf, dass dieser "Burgbereich" 17 Häuser umfasste und Jahrhunderte lang als ein Sondergebiet verwaltet wurde: Seine Häuser waren von der herrschaftlichen Fronsteuer befreit. Den eigentlichen Herrenhof vermutete er durch einen Grabungsfund beim heutigen Grundstück Planiestraße 3 - einer ehemaligen Bäckerei.


alte Postkarte (Ausschnitt): Planiestraße mit Gasthaus "zur Burg" -auch heute noch Gaststätte

Im Verlauf des späten Mittelalters löste sich die Struktur der Fronhöfe Schritt um Schritt auf, auch in Sindelfingen. Es entstand ein etwas abseits gelegenes  Quartier, im Schatten der Stadtmauer und des "Neuen Turms", dessen Name "Burg" aber nicht vergessen wurde. Bis in unsere Zeiten hinein wurde sogar vom "Burgschultes" gesprochen, der als Ansprechpartner für die "Burgbewohner" fungierte. 


farbig ergänzter Plan von 1830: grün die 1830 noch erhaltenen Reste des Stadtgrabens (rechts heutige Planie, unten heutige Untere Vorstadt); in Braun die 1830 noch erhaltenen Reste der Stadtmauer und der "Neue Turm"; die rote Grenzlinie umfasst die sogenannte "Burg" im Südost-Eck der ummauerten Stadt.


Nach dem Abriss der östlichen und der südlichen Stadtmauer und der Planierung des Grabens im Osten war einerseits  die abseitige und etwas heikle Lage im Schatten des "Neuen Turms" (er war zum Stadtgefängnis umgenutzt worden) aufgehoben: Die Untere Burggasse war nun zum Verbindungsweg aufgewertet, der das Altstadtzentrum mit dem neuen Stadtzentrum um das 1842 erbaute Rathaus verband. Andererseits wurde das bis in unsere Tage baulich nicht deutlich, denn dieses Gebiet ist das am wenigsten attraktive der gesamten Altstadt.

Hoffen wir, dass sich dies jetzt ändert. 


zur Diskussion: Gestaltung der Unteren Burggasse mit rustikaler Mauer, einem Burggarten, dem Schweinestall, einer Ferkelgruppe, der Vogeltränke, dem Fenster zur Erinnerung an den Herrenhof und dem Grenzstein zwischen der Stadt und der "Burg" (Entwurf: phil)

19 Dezember 2023

Pfarrer Schönhuth und sein Sindelfingen

(Abbildung: Familie Schönhuth)

(Es folgen Ausschnitte aus einem szenischen Text zu den Literaturwochen 2017 in Sindelfingen, der sich mit dem in Sindelfingen geborenen und aufgewachsenen Pfarrer Ottmar Schönhuth beschäftigte. Als national begeisterter, monarchistisch eingestellter Zeitgenosse gehörte er zum konservativem Bürgertum des Königreichs Württemberg - mit stetem Blick zurück in die Geschichte.) 

Gesprächsauszüge: ...Die Schönhuths waren über Generationen die Kellermeister der Tübinger Universität in Sindelfingen  -  das sogenannte" Storchenhaus" war das Verwaltungszentrum. 

Ottmars Großvater wurde dann sogar zusätzlich Amtmann der damaligen Oberamtsstadt Sindelfingen  -  

...also - eine respektable, gut situierte Familie...

die Tübinger Universitätskellerei, "Storchenhaus" genannt
(für das Bild Dank an den Schwarzwaldverein)

...aber mit einem schnellen Abstieg Anfang des 19. Jahrhunderts.

Der ehemalige Archivleiter Dr. Burr hat das nachrecherchiert, im Jahrbuch 1970 zu lesen: Um die Amtsführung des Großvaters gab´s zum Beispiel immer wieder heftigen Streit.

Und sein Sohn, also Ottmars Vater, promovierter Jurist, verspielte und verspekulierte Schritt um Schritt den gesamten Besitz. Wohl auch deswegen brachte sich der Großvater 1813 im eigenen Haus um.

Der älteste Sohn, also Ottmar, war da 7 Jahre alt und musste den jahrelangen bösen Dauerstreit der Eltern erleben. 

Die Mutter blieb mit den vier Kindern völlig mittellos in Sindelfingen zurück. Das Gasthaus zur „Goldenen Glocke“, das die Schönhuths gekauft hatten und das nur einen Katzensprung von der Martinskirche entfernt lag, musste verkauft werden - wie alles andere auch. Und trotzdem schreibt Ottmar später geradezu harmlos:

"Sindelfingen ist der Ort, an dem ich geboren und erzogen wurde, wo mein lieber Vater, viele meiner Geschwister und alle meine Voreltern begraben liegen und wo noch meine einzigen Verwandten von väterlicher Seite leben."

Ottmar war trotz aller dieser Geschehnisse in der Sindelfinger Lateinschule ein sehr guter, sehr beredter, begeisterungsfähiger Schüler, hieß es. So gut, dass er sogar das sogenannte Landexamen bestand und auf einen Antrag der Mutter beim König eine Freistelle im evangelischen Klosterseminar Schöntal im Jagsttal bekam. 

Der klassische schwäbische Weg geht danach ja weiter ins Tübinger Stift, zum Theologiestudium.

Auch Ottmars Weg. Er wird also in Tübingen dann von der dortigen spätromantischen Bewegung ganz und gar ergriffen…

...in fast kindlicher Begeisterung nimmt er die literarischen und philologischen Ideen von Uhland, Mörike, Silcher auf; er würde am liebsten alle solche Ideen gleichzeitig aufgreifen und umsetzen…

...veröffentlicht schon mit 20 Jahren sein erstes Buch, nämlich „Hugos von Trimberg auserlesene Fabeln, Erzählungen und Schwänke aus dem Ende des 13. Jahrhunderts“.

Also nichts Theologisches!


(aus: Google books)

Nein, nein, typischerweise etwas Historisches. Das war seine Welt! Übrigens der Beginn von insgesamt mindestens 150 Büchern und unzähligen weiteren Veröffentlichungen in Zeitschriften und Magazinen. Das läuft bei ihm wie am Fließband. 

Und wenn ihm bestimmte Aspekte fehlen, dann erfindet er sie dazu. Da ist das Pädagogische wichtiger als das Historische. Das Gefühlsmäßige wichtiger als das Rationale.

Was ist mit der Sindelfinger Sage von der Glocke im Hinterlinger See?

Gute Frage. Du meinst, weil das Gasthaus der Familie Schönhuth "Goldene Glocke" hieß?


08 Dezember 2023



Realschüler kümmern sich um den "ersten Sindelfinger Demokraten"

Es war ein Experiment: Können Sindelfinger Realschüler mit einem vor 175 Jahren gestorbenen, längst vergessenen Sindelfinger Literaten etwas anfangen? Wird ihnen deutlich, warum dieser August Schäfer für seine demokratischen Ansichten verfolgt wurde und warum er nach Straßburg fliehen musste? Welche schwierigen Zeiten sind dies in Württemberg gewesen? Eine Abendveranstaltung mit Schülerinnen und Schülern  der Sindelfinger Realschule Eschenried sollte diese Fragen beantworten.

Der Film zeigt einen kleinen Ausschnitt aus dem fiktiven Interview mit dem Mannheimer Verleger Hoff, bei dem August Schäfer einige seiner Werke verlegt hatte. (Hoff wird von Volker Kittelberger gespielt. Filmproduktion: Hans Knauß. Weitere Filme bei "Kultur am Stift".)

Die Sindelfinger Initiative "Kultur am Stift" hatte im November 2012 diesen zu Unrecht vergessenen Webersohn einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. Sie konnte damals aus Zeitgründen nicht alle fünf kleinen Filme, die fiktive Interviews mit Zeitgenossen Schäfers zeigen, vorführen. Bei der Überlegung, dies nachzuholen, entstand die Idee, Sindelfinger Schülerinnen und Schüler mit ins Boot zu holen. Bei der Schulleitung und bei Kollegen der Realschule Eschenried stieß man auf offene Ohren und die Bereitschaft, dieses Experiment zu wagen. Denn dass die Erarbeitung des komplexen historischen und kulturhistorischen Hintergrunds nicht einfach sein würde, war den Beteiligten bewusst.


So ist einem heutigen Jugendlichen natürlich nicht klar, warum die Forderung nach einer deutschen Republik im damaligen Königreich Württemberg auf heftige und harte Reaktionen, bis hin zur Gefängnisstrafe, führte. Die dabei ins Feld geführte Formel "König von Gottes Gnaden" erscheint uns heute fremd, galt aber bis ins 20. Jahrhundert. August Schäfer hat schon als junger Mann Bestrafungen in Kauf genommen, um mitzuhelfen, ein demokratisches Deutschland zu schaffen. Er ist dafür "der erste Sindelfinger Demokrat" genannt worden. Für sein Engagement geriet auch er ins Visier der Spitzel des erzkonservativen Habsburger Staatskanzlers Metternich, der die damalige Zeit prägte. Schäfer wurde mit Steckbrief gesucht!

 
So könnte sich am Beispiel eines Sindelfinger Literaten aktueller Geschichtsunterricht konkretisieren und personalisieren. Dazu sollen auch die kleinen Filme dienen, die in Sindelfingen gedreht wurden und die Schäfers Eltern, einen Jugendfreund, seinen Verleger, den bekannten literarischen Zeitgenossen Karl Gutzkow und einen württembergischen Zensurbeamten zu Wort kommen lassen. Die Schülerinnen und Schüler haben durch kurze Gesprächsrunden in die Thematik der jeweiligen Filme eingeführt und haben dann ihre Eindrücke und ihr neues Wissen diskutiert. 


07 Dezember 2023

 Sindelfinger Bilder 2

Ferkelmarkt in der Unteren Burggasse (50er Jahre)

bearbeitetes Bild; Original Familie Haubner

Zwischen den Häusern Untere Burggasse 5 und 6 - also zwischen den Werkstätten eines Wagners und eines Schmieds - fand bis in die 60er Jahre der Sindelfinger Ferkelmarkt statt. Und dann ist man zum Daimler zur Arbeit.

 Zitat:

"Wenn Sie die Art und Weise ändern, wie Sie Dinge betrachten,                                                        ändern sich die Dinge, die Sie betrachten."

Max Planck

06 Dezember 2023


 Sindelfinger Bilder 1

Planiestraße 10 und 12 (späteres Haus "Betten-Leonhardt")

mit Dank an die Familie Maurer

Das eindrucksvolle Foto zeigt das um 1910 mächtigste private Haus Sindelfingens, in der Planiestraße gelegen. Sein stolzer Erbauer, der Steinmetzmeister Peter Auer, verewigte deshalb den ganzen Straßenkomplex mit einem Relief als „Petersplatz“. Sein Enkel Wilhelm Heinrich Leonhardt eröffnete im Haus eine große Textilhandlung, ließ auch selbst Stoffe produzieren und war mit dem Einspänner und seinem noch heute vorhandenen Musterbuch bei Kunden unterwegs. 


28 November 2023

Unser Mentor für die Poetischen Orte:            Tonino Guerra

von Klaus Philippscheck 

Tonino Guerra war in Santarcangelo di Romagna unweit nördlich von Rimini aufgewachsen – in einem ländlichen Markt, der die bäuerliche Kultur wie im Vergrößerungsglas sichtbar machte. Zum Lehrer ausgebildet, kam Tonino Guerra in die Welt des Films, der damals berühmt wurde, weil er soziale Sachverhalte spiegelte, auch mit Dialekten. Dann ging er nach Rom und wurde Drehbuchautor berühmter Filmemacher wie Antonioni, Fellini, Rosi, Taviani, Tarkowski. 

(Porträtfoto: Wikipedia)

Aber es zog den Dichter Guerra in seine Heimat zurück. Er beschrieb in Geschichten, Gedichten und Poemen den Untergang der bäuerlichen Kultur im Marecchia-Tal : als menschliche Tragödie - und zugleich machte er sichtbar, was an Schätzen in Natur und Kultur verloren ging – als Werte der Menschheit. 

Hoch über dem Fluß steht die kleine Stadt Pennabilli. Der dortige Barbier Gianni Giannini, ein außerordentlich gebildeter Mann, lockte den Dichter, indem er ihm ein altes Haus in einer landschaftlich phantastischen Lage anbot und es herrichtete.

 Und hier beginnt nun der zweite, konkrete Teil der Poetik: das Projekt der Poetischen Orte. Guerra und Giannini ließen sich von der Stadt ein Grundstück schenken und gestalteten darauf einen Garten: den „Orto dei frutti dimenticati“- den "Garten der vergessenen Früchte". Sie pflanzten Bäume mit Früchten, die es auf den Märkten nicht mehr gab, weil immer mehr Obst standardisiert geworden war  – hier aber konnte man die Äpfel und Birnen der Urgroßeltern und vieler Jahrhunderte sehen und schmecken.  Mit seinen magischen Texten und Skulpturen wurde der Garten zu einer kulturellen Herausforderung. 

im "Garten der vergessenen Früchte" (Foto: phil)

Es folgten weitere  anrührenden Orte, wo Phantasie mit einer Fülle von künstlerischen Einfällen überrascht und faszinierte Menschen anzieht. In der Region begann man zu merken, dass im Tal „die Wurzeln der Natur und der Menschheit“ lagen. Die Zahl der „Poetischen Orte“ wuchs und es folgten weitere  anrührenden Orte, wo heute Phantasie mit einer Fülle von künstlerischen Einfällen überrascht und ihre Faszination Menschen anzieht. In der Region begann man zu merken, dass im Tal „die Wurzeln der Natur und der Menschheit“ lagen. Mit der Kraft der dichterischen Sprache des berühmten Filmautors wurde dies wahrnehmbar. Es kamen Journalisten und schrieben darüber. 

der "Winkel der verlorenen Madonnen" (Foto: phil)
Horst Weber und ich besuchten Pennabilli 2004 und waren tief beeindruckt. Tonino Guerras Hinweis, dass diese Idee "wie ein Schiff reisen und überall anlegen" könne, um den "Genius loci", den typischen Charakter eines Orts zu fassen, leuchtete uns ein und wir begannen darüber in Sindelfingen zu berichten und für Sindelfinger Poetische Orte zu werben; für ein Gefühl für die Faszination des Einfachen, des Magischen, für die Verwobenheit von uns Menschen mit Traditionen, Erinnerungen und mit der Natur und ihren Kreaturen.

Tonino Guerra ist 2012 in seiner romagnolischen Heimatstadt  Santarcangelo verstorben.
T
typische Zeichnung von Tonino Guerra









 Aus einer Reihe von "Kultur am Stift": Poetische Ortserkundung 3

 Ein Brief aus Weimar nach Sindelfingen

Stumm schaukelte der kleine gelbe Kanarienvogel in seinem Käfig. Denn durch das enge, nicht ganz klare Fenster kam an diesem Tag nur wenig Sonnenlicht herein. 

Trotzdem war zu erkennen, dass in diesem Zimmer überall auf dem Boden und auf Brettern  unzählige Töpfe und Kessel mit angerührten Farben, auf Regalen allerlei Schalen mit Farbpulvern und Mineralien standen. An der Wand hingen Hunderte winziger Zettel mit Farbproben, auch mit hingekritzelten Notizen. 


Am Tisch in der hinteren linken Ecke, von der Tür aus gesehen, saß ein Mann hinter Bücherstapeln und schrieb im Licht einer Öllampe. Es war still  - bis auf das rötliche Kratzen seiner Feder und das blaue, leise Ticken einer unsichtbaren Pendeluhr.

 Plötzlich ging die Tür auf. Die Frau stand im Gegenlicht, das bunte Tuch um die Schultern leuchtete sanft. „Jeremias“, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme, „Jeremias, lies mir vor, bitte, von wem dieser Brief hier ist, der Bote schaute mich so seltsam an und murmelte etwas von, – ich hab´s nicht recht verstanden -  von Johann Wolfgang Goethe. Mir ist schwindlig.“

 Wie im Traum erhob sich ihr Mann, Federn schwebten langsam zu Boden. Er nahm den Brief. Er las. Die Uhr blieb nun stehen. Nach kurzer Pause flüsterte er: „Von Goethe, mein Gott, er hat mein Manuskript gelesen, endlich. Er lobt mich.“

 Ein lauer Windstoß drückte das Fenster wieder auf. Ein erregtes Wispern lief durch die engen Gassen bis hin zum Hexensprung: „Der Färber Gülich am Graben soll einen Brief vom Goethe bekommen haben, direkt aus Weimar! Ja, ja, vom großen Goethe!“ Ein schmaler, gleißender Sonnenstrahl traf den Vogelkäfig und das Gelb des Vogels blitzte jetzt auf und wandelte sich zu leuchtendem Gold, hochrotes Feuerlicht zerstäubend. Gülich öffnete den Käfig, der Vogel drehte kurz den Kopf zu ihm und flog dann hinaus ins tiefe Blau des Goethischen Himmels."

26 November 2023


 Der Sindelfinger Grafiker
 Karl Eisenhardt
Bühnenbild von Karl Eisenhardt

Immer wieder gab es Hinweise: Oben in der Langen Gasse gab´s ein Haus mit einer großformatigen Malerei darauf. Und der Maler soll auch  fotografiert haben. Wer weiß etwas Genaueres?

Diese Spuren zu verfolgen, hat nach einem ersten Hinweis von Frau Alwine Weller Jahre gedauert. Dann wurde klar: Es geht hier um den Sindelfinger Karl Eisenhardt und im März 2014 gab es dann endlich das erste Telefonat mit Frau Gisela Thiers in Paris, der Tochter dieses Künstlers. Und dabei die überraschende Information, dass sich in Paris noch eine große Zahl von Entwürfen, Skizzen, Fotos und fertig gestellten Werken ihres Vaters befindet! 

das Haus in der "Langen Gasse" (im Krieg zerstört)
Karl Eisenhardt (links) beim Musizieren

Und nach vielen Vorarbeiten  hing am 5. Februar 2016 eine eindrucksvolle Auswahl seiner Werke im hellen Licht der städtischen Galerie. Welch eine Überraschung für alle, die Karl Eisenhardt noch kannten und jetzt staunend vor seiner künstlerischen Vielfalt standen. Alle waren sehr dankbar dafür, dass sich die Galerie der Stadt Sindelfingen sofort bereit erklärt hatte, ihre schönen Räume einer Karl-Eisenhardt-Ausstellung zur Verfügung zu stellen. 

bei der Ausstellungseröffnung (Frau Gisela Thiers stehend im hellen Kleid)

Wer war dieser Karl Eisenhardt? Bevor es dazu einen ausführlicheren Vortrag von seiner Tochter, Frau Gisela Thiers, zu hören gab, nutzte Kultur am Stift wieder einmal eine kleine szenische Lesung, um ins Thema einzuführen. Das fiktive Gespräch in Stuttgart am sogenannten "Neuen Theater" zwischen dem Bühnenbildner Karl Eisenhardt und dem Dramaturgen Fred Alten ließen wir im Jahre 1949 stattfinden. Damals hatte sich nämlich eine heikle Situation entwickelt, wegen der der Intendant dieses Theaters, Fred Schroer, dabei war, verärgert Stuttgart zu verlassen.

Einige Informationen über das Leben des Karl Eisenhardt (1908 - 1978)

Mit Karl Eisenhardt steht uns ein Mann vor Augen, dessen Leben typische Aspekte eines in der historischen Altstadt aufgewachsenen Sindelfingers aufzeigt.

Der Vater Jacob war Schreinermeister und lebte und arbeitete mit seiner Familie in dem über 500 Jahre alten Haus Lange Straße 40, das direkt an die Stadtmauer gebaut war. Wir finden es hier wie so häufig bei den familiären Strukturen der Vergangenheit:  Der Vater bestand darauf, dass der älteste Sohn trotz der Vorschläge der Lehrer nicht den erhofften Gymnasialabschluss machen konnte, sondern einen „Brotberuf“ zu ergreifen hatte. Das heißt, dass Karl eine Lehre als Dekorations- und Schriftenmaler bei der Sindelfinger Firma Hornikel begann. Trotz des frühen Todes der Mutter 1920 entwickelt sich eine musische Familie: Karl zeichnete und malte gerne und gut, spielte später Geige, seine Schwester Emma Klavier, deren späterer Ehemann Tenorhorn. 

Karl interessiert sich auch früh für die Fotografie und macht mit seiner Voigtländer bis zu seinem Lebensende unzählige Aufnahmen. Eine Reihe von Fotos – auch mit Sindelfinger Motiven – werden unter dem Blickwinkel gemacht, sie als Vorlagen für Aquarelle oder Ölbilder zu nutzen. So entstehen Fotos, wie sie nur selten im damaligen Sindelfingen gefunden werden: Nicht bloße sachliche Dokumente, sondern bewusst gestaltete Bilder des alten Städtchens Sindelfingen. 

Auch die enge Naturverbundenheit passt in dieses Persönlichkeitsbild. Ölgemälde greifen die Umgebung Sindelfingens auf, aber auch Motive der Schwäbischen Alb oder des Bodensees. Auffällig ist natürlich die Häufigkeit der Bilder und Fotos mit Ansichten der Bergwelt, zu der sich Karl Eisenhardt besonders hingezogen fühlte.

Gouache zum Thema Fotografie 1

Gouache zum Thema Fotografie 2

Seine vielen Firmenwechsel verweisen uns auf die sehr schwierigen wirtschaftlichen Zeiten, die es für Karl Eisenhardt verhinderten, sich als freier Künstler zu etablieren. Dabei zeigen seine kleinen Gouachen, die als Vorlagen für Plakate dienen könnten, dass er mit diesen Entwürfen künstlerisch „am Puls der Zeit“ war.; das heißt, am Puls der Zwanziger Jahre. Daher war es dann sicherlich eine große Chance für ihn, als er eine Anstellung als Bühnenmaler und Bühnenbildner am Schauspielhaus Stuttgart erhielt, die ihm viele künstlerische Freiheiten eröffnete. 

Stuttgarter Bühnenbild zu Brechts "Dreigroschenoper"

Als der Vertrag mit dem Theater 1949 nach arbeitsrechtlichen Streitigkeiten aufgelöst wurde, zog Karl Eisenhardt wieder in seine Heimatstadt Sindelfingen zurück und eröffnete hier seine Werkstatt als Schildermaler. Die brachte ihm zwar viele interessante Aufträge - reduzierte seine künstlerischen Ambitionen dann allerdings auf die private Welt .

Karl Eisenhardt: "Winterliches Sindelfingen"

Wir danken der Familie Gisela und Jean-Marie Thiers für ihre Unterstützung und die Abbildungen..

21 November 2023

 Das älteste Kunstwerk und die neueste Technik

Was also bedeutet uns die Erkenntnis, dass das Relief von 1477 in der Sindelfinger Martinskirche an einem historisch und theologisch falschem Platz hängt? (Siehe früherer Blog-Eintrag.) Aus der Wand kann das große, schwere Relief deswegen nicht herausgerissen werden. Also kann "nur" mit einer Kopie gearbeitet werden, um für diese dann einen Platz zu finden, der dem historischen Platz so nahe wie möglich kommt. Wie könnte aber eine Kopie hergestellt werden, wenn die schwere Steintafel in der Wand bleiben muss?

Nun, heutzutage kann eine Lösung gefunden werden und die heißt: 3-D-Druck. Das Relief kann an seinem Platz mit einem 3-D-Scan abgetastet werden; die Daten werden einer Spezialfirma übermittelt, die damit einen 3-D-Druck herstellt - und dieser dient als Grundform für einen Bronzeguss. 

das uralte Sandsteinrelief wird abgescannt

Die Hilfe eines Unternehmens beim Scannen, die vielfältige Unterstützung durch die Schaufler-Stiftung, das Kulturamt, die Kirchengemeinde, dem Verein Fokus, weiterem privaten Engagement - das alles ermöglichte es unserer Initiative "Kultur am Stift", dies kaum für möglich gehaltene Projekt zu realisieren. Seit einem informativen Einweihungstermin in der Martinskirche, der die kulturgeschichtlichen Hintergründe mit Bildmaterial und Szenen präsentierte, steht nun eine eindrucksvolle Kopie des spätgotischen Kunstwerks im Klosterareal - nahe dem historischen Standort. Sie wertet den uralten Kulturbereich um die Martinskirche herum weiter auf.   
Arbeit in der Bronzegießerei Strassacker

Da der dazugehörige, ehemalige Klostergarten mittlerweile ein großer Schulkomplex ist, hoffen wir auch, dass die eindrückliche Schönheit des Bronzereliefs dabei hilft, vielen jungen Menschen die Bedeutung dieses Ortes deutlich werden zu lassen.

der Standort des Bronzereliefs - rechts historische Klostergebäude
(Fotos: Klaus Philippscheck)

Besuchen Sie dieses Bronzerelief und schauen Sie sich bitte auch das Original im Nordwesteck der Martinskirche an.


19 November 2023



Falscher Standort fürs Relief?

 Im Verlauf der Beschäftigung mit der uralten Martinskirche fiel uns auf, dass das Sandsteinrelief von 1477, das zu den wenigen bedeutenden Ausstattungsstücken der Kirche gehört, sehr unglücklich platziert worden ist: Sein Platz - seit 1973 - im nordwestlichen, also dunkelsten Eck der Kirche ist seiner kunsthistorischen und theologischen Bedeutung nicht angemessen. Niemals wäre ein Werk, das neben dem "Schmerzensmann" Christus die beiden bedeutendsten damaligen Herrschergestalten Württembergs zeigt, in solch ein abseitiges Eck  gehängt worden; zumal West- und Nordseite eines Gotteshauses einst theologisch negativ belegt waren. Wir zitieren hier mal die Googlesuche: "Der Norden wurde meist mit dem Teufel und dem Bösen assoziiert, während der Westen oft als Ort des Todes und der Dunkelheit angesehen wurde."

Dort kann das Relief im Jahr 1477 also auf gar keinen Fall aufgehängt worden sein! Und nicht zu vergessen: Die mittelalterliche Kirche ist geteilt gewesen. Die Schranke des Lettners trennte die Kirche immer in zwei Teile:  im Osten der abgehobene Chor mit dem aufwendigen Hauptaltar, ein Bereich, der nur vom Klerus, also in Sindelfingen von den Chorherren betreten werden durfte; im Westen, also unten, der Bürgerbereich mit seinem bescheidenen Volksaltar. Da sich der lateinische Weihetext von 1477 auf das neue, "heilige" Kloster bezieht, wäre übrigens auch der Chorbereich nicht der richtige Ort für das Relief: Es geht beim Stiftungszweck nicht um den Kirchenbau, sondern um das Kloster als Institution.

Natürlich stellte sich dann die Frage, für welchen Ort das Relief eigentlich geschaffen worden war. Der über allen schwebende ermahnende Christus; die Stifterfiguren, die vom Reformkloster Vorbildfunktion erwarten; die lateinisch geschriebene Erinnerung an die Schutzfunktion der beiden Herrscherfiguren: Das alles ließ nur den Schluss zu, dass das Relief seinen Platz im Klosterbereich gefunden hatte, und zwar an prominenter Stelle. Unser fast vergessener Pfarrer und Historiker Ottmar Schönhuth half uns weiter: In seiner kleinen "Chronik der Stadt und des Stiftes Sindelfingen" von 1834 erwähnt er den Standort des Reliefs, das er selbst dort ja noch gesehen hat; und das war "am Eingang in den früheren Klosterhof". Und das stimmt mit unseren Überlegungen perfekt überein; heißt aber auch, dass man sich Gedanken machen muss, was das denn für das Relief bedeuten kann. 

aus Schönhuths "Chronik", Seite 24 (Privatbesitz)

So könnte der Klostereingang einst ausgesehen haben...
(Collage: Klaus Philippscheck)

Über unsere weiteren Überlegungen zu diesem Thema wird in einem folgenden Artikel berichtet...


16 November 2023

 
Die bewegte und bewegende Geschichte                 einer Sindelfinger Villa

historisches Foto der Villa (ca. 1907)

Sie hatten sich unter anderem aus Berlin, München und Ulm angemeldet: Nachkommen der Familie Wittmann, deren 1906 am damaligen Stadtrand Sindelfingens erbaute Villa das Thema einer Abendveranstaltung von „Kultur am Stift“ am 19. September bildete. Mit diesem vom Sindelfinger Architekten Georg Bürkle erbauten, jugendstilgeprägten Gebäude, am heutigen Calwer Bogen gelegen, erhielt Sindelfingen seine einzige großbürgerliche Villa, ergänzt von einer umfangreichen Garten- und Parkanlage – ein in Sindelfingen einzigartiges Ensemble.

Erwin Wittmann war seit 1904 Mitbesitzer und Geschäftsführer der Jacquardweberei Zweigart & Sawitzki und brachte auch mit seiner in Buenos Aires geborenen, aus einer Hugenottenfamilie stammenden Frau Anita ein internationales Flair nach Sindelfingen. Auffällig für alle auch das große lateinische Zitat an der Hauswand zur Bachstraße hin   – ein berühmter Text des Dichters Horaz; ein Text, der zeigen sollte, dass diese international vernetzte Familie in Sindelfingen ihre Heimat gefunden hatte.

Birkenhain im Garten der Villa

Anita und Erwin Wittmann (Hochzeitsfoto)

Die Veranstaltung musste aber auch berichten, wie nach einem friedlichen und kulturbetonten Anfang schicksalhafte und typische politische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts die Hoffnung auf ein sorgenfreies Leben zunichtemachten. Die unterschiedlichen Nutzungen der Villa, die heute "Kindervilla Wittmann" heißt und die viele Sindelfinger/ Innen noch heute als "Wilhelminenheim" kennen, spiegeln dies wider. Dass auch die Ideologie des Dritten Reichs grausam in das Familienschicksal mit hineinspielte, gab dem Geschehen um diese Villa eine tragische Dimension. 

Die Sindelfinger Stadtgesellschaft hatte große Schwierig-keiten, mit dem Schicksal dieser außergewöhnlichen Familie zurechtzukommen. Erst lange Zeit nach dem Krieg wurden Kontakte aufgenommen. Dass dieses bedeutende Gebäude aktuell den Namen "Kindervilla Wittmann" trägt, ist ein Grund zur Genugtuung.

Abschluss der Veranstaltung mit Vertretern von "Kultur am Stift", der Stadt und der Familie Bertsch

Neben der Information über diese in Sindelfingen einzigartige Villa boten die Veranstalter mit diesem Abend am 19. September 2018 den Nachkommen der Familie Wittmann, von denen seit 1936 niemand mehr in Sindelfingen lebt, einen erstmaligen, bewegenden Treffpunkt direkt an der Villa.

(Für die historischen Fotos danken wir der Familie Bertsch in Ulm und Berlin)


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