07 Februar 2024

Martinskirche Frage 1:                                              Warum hat die Martinskirche keinen gotischen Chor?

Der lombardische Chor der Martinskirche; sehr wahrscheinlich von italienischen Steinmetzen geschaffen (Foto: phil)

Diese Frage haben wir - vor dem wunderbaren lombardischen Chor der Martinskirche stehend - unseren Besuch immer wieder gefragt. Und meist kam erstauntes Schulterzucken: Warum sollte sie denn ihren romanischen Chor - oder gar die ganze Kirche - verändern? Er ist doch wunderbar, so wie er ist.                                                                                             

Deshalb muss man noch einmal nachfragen: Aber wo sind denn andere romanische Chorformen in unserer näheren und weiteren Umgebung? Überall finden wir entweder gotische Kirchen oder wenigsten gotische Chöre an romanischen Kirchenschiffen. Überall. Schauen wir uns die nähere Umgebung an: Böblingen, Dagersheim, Leonberg, Weil der Stadt, Magstadt, Holzgerlingen, Ehningen, Nufringen, Gärtringen und auch Herrenberg - und das sind nur zehn Beispiele von vielen, vielen mehr.


die Dagersheimer Kirche (eine Dorfkirche): romanische 
Kirche mit gotischem Chor (Foto: phil)
frühgotischer Chor der Stuttgarter Stiftskirche (Wikipedia)




                                                                                            

                                                                   

Also: Sindelfingens Martinskirche ist eine große Ausnahme! Das reizt natürlich zur Frage: Warum?

Das Geld konnte es nicht sein: Sindelfingens Chorherrenstift war sehr reich. Stilistische Aspekte kommen auch nicht in Frage, denn eine starke Ablehnung des gotischen Stils gab es nicht: Das mit Sindelfingen personell stark verwobene Stuttgarter Chorherrenstift baute seine Kirche gotisch um; und in Tübingen wurde für das aus Sindelfingen umgesetzte Stift eine neue, klassisch gotische Kirche, Sankt Georg, gebaut. Die Gotik war der Stil, der die Romanik allerorten abgelöst hatte: zum Himmel strebend, leuchtend, die Gläubigen emotional ansprechend, ein neues Selbstbewusstsein symbolisierend.

die Lage der Krypta unter dem Chor (aus: "Alt-Sindelfingen", 1951, Seite 48)

Es kann also nur ein bedeutsamer baulicher Aspekt sein, der den gotischen Umbau der Martinskirche verhinderte. Und das ist ihre Krypta. Eine Zeitlang hatte sie als Grablege der Calwer Grafen und später des württembergischen Hauses gedient und diese Gräber wären beim Umbau verloren gegangen. Hier stand der Altar mit den Martinsreliquien. Bei einem komplexen gotischen Neubau hätte die Krypta nicht erhalten werden können. Der nördliche Anbau der kleinen Sakristei im gotischen Stil hat die Krypta nicht berührt, zeigt aber, dass man den neuen Stil eigentlich nicht ablehnte.  

Die Krypta, diese quer unter dem gesamten Chor liegende Unterkirche mit ihren Altären und Gräbern, wurde also für so bedeutsam gehalten, dass man den romanischen Bau in seiner Grundstruktur nicht anrührte. Aber dann änderte die Reformation alles: Die Krypta mit ihren Heiligenaltären, Reliquien, Monstranzen und Gräbern hatte ihre theologische Bedeutung völlig verloren, war längst ausgeräumt und war nur noch als ein schmutziger und feuchter Kellerraum übriggeblieben.1576, drei Jahrzehnte nach der Reformation wurde dieser unnütz gewordene Raum zugeschüttet. Die zugemauerten Fenster der Krypta sind außen an der Chorpartie noch zu sehen - als Zeugen der einstigen geheimnisvollen Unterkirche.

Wenn Krypten erhalten sind, dann meist in katholischen Kirchen oder auch aus übergeordneten gesellschaftlichen, familiären oder statischen Gründen, wie etwa in Oberstenfeld oder Denkendorf.

Die ehemalige Krypta in der Martinskirche; schematische Zeichnung aus "Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg, Band 4, Landesdenkmalamt, Stuttgart 1977, Seite 109; zusätzlich koloriert)



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