23 Januar 2024


Eine Dresdner Villa in Sindelfingen

Kreiszeitung Böblingen, 4. April 2015 (Text gekürzt):

Mit dem Erlebnis „Dreimal volles Haus" war die Initiative „Kultur am Stift" im Chorherrenhaus sehr zufrieden. Es ging an den drei Abenden um die Kulturgeschichte der 110 Jahren alten, denkmalgeschützten Villa Leibfried in der Bahnhofstraße. Bei architekturgeschichtlichen Untersuchungen war „Kultur am Stift" auf eine verblüffende Tatsache gestoßen: Die Villa in der Bahnhofstraße, die sich der Sindelfinger Stadtkämmerer Wilhelm Leibfried 1904 vom hiesigen Architekten Georg Bürkle hatte bauen lassen, war eine Kopie. Vorbild war für ihn die einst sehr berühmte Villa Rautendelein des Schriftstellers Gerhart Hauptmann gewesen. Diese Geistesgröße musste den Sindelfinger so beeindruckt haben, dass er in einer baugleichen Villa wie sein verehrter Autor leben wollte. 

Entwurfszeichnung der Sindelfinger Villa
(Architekt Bürkle; aus dem Stadtarchiv)
Stadtkämmerer Wilhelm Leibfried und Ehefrau
Marie Luise (1897, Foto: Familie Frommer)

Der seltsame Häusername  "Rautendelein" war der Ausgangspunkt für das Team von „Kultur am Stift", um zuerst das persönliche und dann das kulturelle Umfeld des Literaturnobelpreisträgers Hauptmann aufzublättern. Rautendelein war nämlich der Name einer Elfe, die Hauptmann in seinem Märchendrama „Die versunkene Glocke" als eine Hauptfigur auftreten lässt. Alle Besucher zeigten sich erstaunt, dass der Autor, den fast jeder als den naturalistischen Verfasser von Sozialdramen wie „Die Weber" kennt, ein geradezu mystisches und märchenhaftes Stück in Versform geschrieben hatte. Dieses ganz unpolitische Stück stellte ganz unzweifelhaft eine Verarbeitung der schwierigen familiären Situation Hauptmanns und seine Beeinflussung durch den Philosophen Friedrich Nietzsche dar. Dazu passte es, dass ein anderes Elementarwesen aus diesem Stück, der im Wasser lebende "Nickelmann" vor den Unglück bringenden, in sich zerrissenen Menschen warnt.

Hauptmanns Dresdner Villa

der "Nickelmann" an der
Sindelfinger Villa

Dieser "Nickelmann" hing groß und eindrucksvoll drohend an Hauptmanns burgartiger Villa in Dresden, die im Zweiten Weltkrieg leider total zerstört wurde. Aber auch der Sindelfinger Stadtkämmerer Leibfried ließ sich dieses Märchenwesen für seine neue Villa in der Bahnhofstraße in Stein meißeln, weil er seinem  Vorbild  möglichst nahekommen wollte. Diese Figur schaut noch heute jeden Fußgänger an, der die Bahnhofstraße vom Marktplatz kommend entlanggeht. Es wurde an diesen drei Abenden von "Kultur am Stift" deutlich gemacht, dass die damalige Architektur oftmals die Lebensphilosophie ihrer Erbauer widerspiegeln sollte...  

Horst Uhel und Klaus Philippscheck beim Vortrag am 29. März 2015


21 Januar 2024

 Ein weiteres Schiff...

Welch ein Zufall! Da kennen wir in der Grabenstraße einen Treppenpfosten mit der Abbildung eines Kauffahrteischiffs und finden an der Ostseite der Villa Wittmann (heute "Kindervilla Wittmann" am Calwer Bogen) zur Bachstraße hin ein Fresko, das auch ein Schiff darstellt. Diesmal  ein eigenwilliger Zwitter zwischen Handelsschiff und römischer Galeere. Und hier der Zusammenhang: Anita Wittmann, die Ehefrau des Erbauers der Villa, stammte aus einer bedeutenden Hugenottenfamilie, den Frémery. Aus Frankreich geflüchtet fanden sich Nachkommen in Belgien, den Niederlanden und in deutschen Ländern. Anitas Vater war lange Jahre Großkaufmann in Argentinien und sie selbst war in Buenos Aires geboren. Dieser Hintergrund spiegelt sich im Fresko wieder: das Handelsschiff, die weiß-blaue Flagge Argentiniens und rot-weiß-blaue Flagge der Niederlande. Und dies alles an einer Sindelfinger Durchgangsstraße, der Bachstraße, zu entdecken...

Teil der Kartusche mit Schiffs-Fresko und (links) Teil eines Horaz-Zitats zur  Lage der Villa im Grünen.

Anita Wittmann (Foto mit Dank an Familie Bertsch)

Villa Wittmann mit der Familienkartusche zur Bachstraße hin. (Bild: google streets)


Weitere interessante Informationen zur Villa Wittmann beim Sindelfinger Schwarzwaldverein:

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