20 Januar 2024

 Was ein Treppenpfosten erzählen kann...

Rechts die Initialen der Erbauer des Hauses Grabenstraße 29: Anna und Gustav Wergo. Der Pfosten ist möglicherweise vom Sindelfinger Bildhauer Robert Schäfer geschnitzt worden (Foto: phil).

In einem Haus in der Grabenstraße fällt dem Besucher ein interessanter Treppenpfosten auf. Dieser ist hierhin ins Exil gerettet worden - aus dem Abrissmaterial des Nachbarhauses, dem ehemaligen Haus Wergo. Dies war etwa 1910 vom Sindelfinger Architekten Bürkle im  typischen Heimatstil erbaut worden - für Gustav Wergo, den Prokuristen der Textilfirma Dinkelacker. Viele haben 1998 kopfschüttelnd dem Abriss dieses schönen Gebäudes zuschauen müssen.

Von der Familie Wergo erzählt der Treppenpfosten: Das Kauffahrteischiff mit dem osmanischen Halbmond und dem christlichen Kreuz erinnert an die bewegte Geschichte dieser griechischen Familie Wergo, die aus Konstantinopel stammte. Die Tatsache, dass sie die geheimnisvolle Türkischrot-Färberei nach Württemberg brachte, stellt sie mitten in wichtige ökonomische Prozesse der Industrialisierung Mitteleuropas.

Das Geschäfte der Familie Wergo direkt am Marktbrunnen und an der Realschule. Historisches Foto (bearbeitet): Stadtarchiv.


Eine "Kultur-am-Stift"-Initiative 2003: Ein historischer Markt um den
Brunnen herum. Am Sockel des Brunnens eine Malerei in Erinnerung
an die Familie Wergo (Foto: phil). Die Leinwand ist heute im Besitz der
Griechischen Gemeinde Sindelfingen.

 
Weitere Informationen über die Familie Wergo auf der Internetseite des Sindelfinger Schwarzwaldvereins: https://www.swv-sindelfingen.de/?view=article&id=209&catid=90:stadtgeschichtlicher-weg-sindelfingen


18 Januar 2024

 Eine Seite eines Gußmann-Comics

Das wäre ein interessanter Film- oder Comicplot: Die Auseinandersetzungen zwischen dem ehemaligen Sindelfinger Schreinergesellen Jakob Heinrich Gußmann und einem Teil der Sindelfinger Bürgerschaft. Gußmann war in 12 Jahren zum Proviantkommissar für die Truppen des Schwäbischen Bundes am Ludwigsburger Hof aufgestiegen. Als Gußmann 1750 in seine Heimatstadt zurückkam und als Bürgermeister eingesetzt wurde, schuf sein Lebens- und Arbeitsstil erhebliches Konfliktpotential: gottlose Ränke, Stolz, Kleiderpracht, Üppigkeit im Essen und Trinken, Parteilichkeit - das waren Vorwürfe, die typisch für eine kleine pietistisch geprägte Bauern- und Handwerkerstadt waren. So bildete hier auch sein im Anwesen Stumpengasse 1 eingerichteter, bilderreicher blauer Rokoko-Salon ganz sicher einen Fremdkörper im Ort. Alle Absetzungseingaben scheiterten, die Obrigkeit hielt 14 Jahre an Gußmann fest und durch die Gassen schallten lautstarke Auseinandersetzungen.

Die folgende Comic-Seite greift dieses Thema auf. 

 

Comic-Zeichnung: phil

14 Januar 2024

Thema: Vergessene Sindelfinger

Christoph Friedrich Grieb

Die Beschäftigung mit Christoph Friedrich Grieb ergibt ein typisches Bild: Dieser Sindelfinger, der in Otto Borsts Buch "Die heimlichen Rebellen" gewürdigt wird, hinterlässt ein eindruckvolles und vielfältiges Werk, in dem sich das 19. Jahrhundert wie in einem Kaleidoskop spiegelt. Ein Schüler des Stiftsgymnasiums formulierte dazu: "Durch seine vielen Reisen kam er in Kontakt mit den führenden Köpfen seiner Zeit, erkannte die Bedeutung von deren Vorstellungen und konnte auf gleicher Augenhöhe mitreden."

Aber er wird in seiner Heimatstadt vergessen - obwohl er selbst seine Heimatstadt nicht vergessen hat. Das zeigt sich mehrfach: Obwohl er 1836 in Paris die Badenerin Margarethe Gärtner "gemäß dem Code Napoleon" geheiratet hat, gibt es noch eine kirchliche Trauung - und zwar 1842 in der Martinskirche. Die Tochter Marie Dorothea stirbt 1841 kurz nach der Geburt - und zwar in Sindelfingen; ein Sohn Christoph Friedrich wird 1842 hier getauft. Die Kontakte zur hiesigen Familie sind also noch eng gewesen. Aber als Literat, Autor, Übersetzer und Sozialpolitiker sucht er seinen Lebensmittelpunkt natürlich in Stuttgart, der Hauptstadt des Königreichs Württemberg.

Sein Sprachgenie, sein erfolgreiches deutsch-englisches Wörterbuch, sein sozialpolitisches Engagement, seine Freundschaften mit vielen europäischen Sozialreformern, sein außergewöhnliches Interesse an den weltweiten technischen Entwicklungen - diese fünf Hinweise sollten schon ausreichen, um seine überregionale Bedeutung erkennen zu lassen und die Berechtigung dafür, dass seine Heimatstadt ihn aus der Vergessenheit zurückholen sollte. Daher der Vorschlag eines Straßennamens:

Zur Unterstützung dieser Idee führen wir hier folgend kurz und knapp einige wenige seiner Aktivitäten anhand von typischen Veröffentlichungen auf, um seine durchaus landesweite Bedeutung ins Licht zu rücken. Es sind einige wenige Ergebnisse der Recherchen für unsere  Veranstaltung, die im November 2009 mit dem Titel "Kein Mensch kann wahrhaft glücklich sein, so lange es nicht alle sind" stattgefunden hat. 

Eine der vielen Ausgaben von Griebs Wörterbuch, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verlegt worden ist (zum Teil bei Langenscheidt). (Abb.: Wikipedia)

Die berühmte Zeitschrift "La Phalange", in der die Ideen des utopischen Sozialreformers Charles Fourier vorgestellt und diskutiert werden. Grieb gehört zu den vielen begeisterten Unterstützern dieses genossenschaftlichen Projekts. Er schreibt für diese Zeitschrift sowohl aus Amerika, wie auch später als Korrespondent aus Stuttgart. Wenn er sich auch allmählich von den extremen Formen Fouriers löst, bleibt er sein Leben lang ein engagierter Unterstützer der "Associationen", also der Genossenschaften. (Abbildung: Wikipedia)


Ein außergewöhnliches Dokument: erste Seite eines Briefes, den Grieb 1839 als "Sekretär" für eine Gruppe von Fourieristen in New York (darunter sein Schwager F.G.Gärtner) an den damaligen texanischen Präsidenten Mirabeau Buonaparte Lamar schreibt. Man erbittet Siedlungsland am Rio Grande. Nach positiver Antwort reist die Gruppe tatsächlich nach Texas; Grieb allerdings reist nach Paris zurück. Das texanische Projekt scheitert nach relativ kurzer Zeit. (Kopie im Besitz von Kenneth Grieb.)


Grieb wagt es, eine eigene Geschichte der Sozialökonomie zu schreiben und eine ausführliche eigene Auseinandersetzung mit dem berühmten Adam Smith zu führen; er anerkennt die wissenschaftliche Leistung Smith`s, lehnt aber dessen soziale Kälte rigoros ab. (Buch im Besitz von K. Philippscheck.)

An technischen Neuerungen ist Grieb besonders interessiert; er übersetzt 1837 - 1844 die Bücher des François Arago, dem berühmten französischen Physiker und Astronom. Er selbst hat Arago in Paris kennengelernt und schreibt später eine eigene "Geschichte der Telegraphie". (Abb. bei "google books".)

in politisch heißen Zeiten: erste Landtagswahl im Königreich Württemberg nach der bürgerlichen Revolution 1848; Grieb kandidiert im Wahlkreis Böblingen, wird allerdings nicht gewählt, da keine politische Gruppe hinter ihm steht. Für seine genossenschaftlichen Ideen ist es noch zu früh. (Ausschnitt: "google books")

Ein außergewöhnliches Buch für Europa: Grieb lehnt die amerikanische Sklavengesellschaft strikt ab; das Buch beginnt mit einer ausführlichen Darstellung der amerikanischen Sozialstruktur, die 1861 - ein Jahr nach Griebs Tod - zum Bürgerkrieg führte. (Buch im Besitz von K. Philippscheck.)

Wir ergänzen zwei außergewöhnliche Aspekte

1. Margherita, eine Enkelin Griebs, heiratet 1914 in den neapolitanischen Hochadel ein. Der Palast ihres Mannes, Ettore Herzog von Capecelatro, steht noch heute in Neapel (Vico della Calce, 34; bei "Google Earth" groß ins Bild zu holen). 

2. Die Initiative "Kultur am Stift" hatte bis zu seinem Tod Kontakt mit einem Urenkel Griebs, Kenneth Grieb in Somerset/Cornwall, der auch im Sindelfinger Archiv Familienforschung betrieb. Von ihm haben wir dankenswerter Weise Kopien vieler interessanter Dokumente bekommen. 


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