25 November 2014

Ein Brief aus Magdeburg


Am Volkstrauertag 2014, den 16.11., stellte "Kultur am Stift" die szenische Collage "Zwei Sindelfinger Architekten und der Erste Weltkrieg" vor. Dabei sollte gezeigt werden, wie die Radikalisierung durch den Krieg die Menschen feindselig gemacht und auseinandergebracht hat. Dies wurde eindrucks-voll am Beispiel der Sindelfinger Architekten Georg Bürkle und Carl Krayl aufgezeigt. 

Zu Beginn der Veranstaltung wurde eine Grußadresse aus Magdeburg verlesen. Der Sohn des Carl Krayl, Bruno Krayl, hatte dabei auch einen Auszug aus den
Carl Krayl
„Bemerkungen - niedergeschrieben am Rande meines sichtbaren Lebensbuches“ seines Vaters mitgeschickt. Wir dokumentieren hier ein Stück dieser sehr bewegenden Zeilen aus den 20er Jahren:

„Da waren die Jahre vor dem Krieg, Zeit der Sorglosigkeit und des Werdens. Glück im Herzen, im Elternhaus, Glück und Zufriedenheit des Kindseins. Geborgensein des noch Unbewussten. Und doch gelegentlich schattenhafte Ahnungen von anderen Dingen und den anderen Seiten des Lebens. Viel Begeisterung und guten Fortschritt im Beruf. Voller Blick auf ein weites Feld der Ideale. Höhere Aussichten und Ahnungen nach höheren Dingen.“

Er hielt dann aber weiter fest:

"Da kam meine Lebensjahr 24 und mit ihm der große Krieg und der scharfe Abriß zwischen allen bisherigen Werten. Eine Tür schloß sich. Erkenntnisse anderer Anschauungen und die Besinnung. Die Besinnung auf Gott und Christ. Die schützende Hülle wurde von den Dingen der Welt weggenommen und diese wurde nackt und kalt. Krieg ist nicht von Gott, ist gegen ihn, ist fürchterliche Menschengewalt. Du sollst nicht töten. Fürchterliche Welt der Kriegsgewinnler. Geld aus Blut und Menschenleibern. Ablehnung - Ablehnung! Kann Kriegsbegeisterung nicht teilen - Blicke in Abgründe."

Magdeburger Architektur von Carl Krayl

31 August 2014

Sindelfinger Kabinettscheiben

Im Sindelfinger Stadtmuseum findet sich eine kleine, aber außergewöhnliche Besonderheit, auf die unsere Gruppe Kultur am Stift aufmerksam machen will: Es sind die Reste von einem bemalten Fenster des Ratssaals im ehemaligen Alten Rathaus in der Altstadt. 

Der Vogt, der Schreiber und drei Räte - im Stadtmuseum zu sehen 
(Abbildungen mit Dank an das Stadtmuseum)
Diese Restscheiben zeugen von den politischen Strukturen im Herzogtum Württemberg des Jahres 1660, weil die schön bemalten Gläser fast die gesamte bürgerliche Führungsschicht Sindelfingens zeigen - mit Namen, Funktion und Beruf. Unserer Meinung nach ist dies ganz selten, dass solche Scheiben erhalten sind. Schließlich haben sich im 19. Jahrhundert die Strukturen Schritt um Schritt verändert - und Vogt, Rat und Gericht gab es dann nicht mehr. Wieso sollte man sich noch um diese "veralteten" Scheiben, die zu zerbrechen begannen,  kümmern?

Deshalb wurden die im Alten Rathaus noch erhaltenen Scheiben ans Stuttgarter Königshaus verkauft, das - für die Sindelfinger wohl unverständlich - solche "altdeutschen" Stücke sammelte. Die schönen kleinen Sindelfinger Scheiben wurden mit anderen zusammengekauften "Kabinettscheiben" in die Fenster des Jagdschlosses im Klosterkomplex Bebenhausen eingebaut. Diese Originale kann der Besucher noch heute im sogenannten "Blauen Salon" sehen.

Also sind die Scheiben im Sindelfinger Stadtmuseum Kopien, eigens 1978 hergestellt, um an eine vergessene Vergangenheit zu erinnern. Was erzählen sie nun?

Der Vogt, dieser weitaus wichtigste Mann im damaligen Sindelfingen, ist im Bild und mit seinem Wappen zu sehen: Es ist Martin Alluny, der aus Siebenbürgen, damals also Ungarn, stammte. Neben ihm die zweitwichtigste und hoch gebildete Person: der Stadtschreiber. Das war 1661 der gerade ins Amt gekommene David Löhr, der Nachfolger seines Vaters war. Als Bürgermeister tauchen der Wundarzt Eisenlohr, der Schmied Michael Betz, der Zeugmacher Georg Seibold und mit einem Schaf im Wappen der Müller und "Salzmeister" Zacharias Schäfer auf.

die drei wichtigsten Sindelfinger Amtspersonen: der Vogt, der Stadtschreiber, der Bürgermeister

Man erkennt an den erhaltenen Scheiben, dass neben diesen Personen auch der gesamte Rat und das sogenannte "Gericht" dargestellt worden waren. Ihr Ornat und ihre jeweiligen Amts- oder Berufsattribute in ihren Händen zeigen, dass die Stadt den Künstler mit der repräsentativen Darstellung einer offiziellen Amtsversamm- lung beauftragt hatte.

Bei der Betrachtung dieser Scheiben erkennen wir, dass auch zu der kleinen Ackerbürgerstadt Sindelfingen bis ins 18. Jahrhundert die repräsentative Ausschmückung von Gebäuden - amtlichen oder privaten - gehört hat. Man hatte nicht nur Spaß am farbigen Aus- druck, sondern wollte auch mit bewussten Hinweisen durch Symbole und Allegorien auf die Bedeutung politischer und kultureller Strukturen hinweisen.



Die Schaffhauser Scheibe mit
einer pädagogischen Erzählung 
aus dem Altertum im Zentrum
Wir ergänzen dieses Thema mit dem Hinweis darauf, dass die Schweizer Partnerstadt Sindelfingens, das immer schon reiche Schaffhausen, für ihre Glasmalerdynastien berühmt war. Deswegen soll hier auch eine Abbildung einen Teil des Schweizer Gegenstücks zu den Sindelfinger Scheiben zeigen. Es ist im "Stadtmuseum zu Allerheiligen" zu besichtigen - und man erkennt dabei natürlich schnell die höhere Qualitätsstufe.

Dies nimmt uns aber nicht die Freude an unseren Sindelfinger Scheiben.



der fleißige Stadtschreiber Löhr


08 August 2014



Das Skriptorium: Neueinrichtung im Jahr 2014

der neue Raum im Chorherrenhaus
Die Neu-Einrichtung des Skriptoriums im Chorherrenhaus in der Stiftstraße, das im 15. Jahrhundert, noch zu Zeiten des weltlichen Chorherrenstifts, errichtet wurde, hat diese mittelalterliche Schreibstube an einen stimmigen Platz gebracht. Alle Besucher sind beeindruckt von der Atmosphäre dieses Ortes - nicht nur die Kinder beim Skriptoriums-Projekt. Die gestiegene Bedeutung dieser Einrichtung spiegelt sich auch in der Tatsache wieder, dass die Stadt Sindelfingen sie als Dépendance des Stadtmuseums übernommen hat.
Eberhard und Mechthild: Sohn und Mutter


die Chorherren in einem Fenster der Tübinger Stiftskirche und des Sindelfinger Skriptoriums
Schon viele Gruppen haben diesen nunmehr fest eingerichteten Raum besucht und tauchten dabei nicht nur in eine schöne Bilderwelt ein, sondern auch  in die religiöse, theologische und philosophische Welt des einflussreichen Sankt-Martin-Stifts. Auch die Tatsache, dass das Stift immer stärker in den Griff des württembergischen Grafenhauses geriet, ist bildlich thematisiert - durch die Glasbilder, die den Fenstermalereien in der Tübinger Stiftskirche nachempfunden sind. So gerät hier auch die "Landespolitik" des württembergischen Grafenhauses ins Blickfeld.

So wird das Skriptorium - neben seiner Hauptfunktion als Ort eines mittlerweile 12-jährigen Grundschul-Projekts - allmählich auch zu einer eindrucksvollen und einzigartigen Ergänzung des Erlebnisses "Martinskirche und ihr Stiftsquartier". 

07 August 2014

Ein Poetischer Ort am "Armesünderfriedhof"

einst ein verrufener Ort - heute städtische Grünanlage...

Am Freitag, dem 23. Mai 2014 wurde ein weiterer Poetischer Ort in Sindelfingen eingeweiht: am einstigen, so genannten "Armesünderfriedhof", am Klostersee gelegen.


Karte des 17. Jahrhunderts
An diesem heute idyllischen Ort weisen uns alte Mauern auf eine weit vergangene Zeit hin: Hier lag bis zur Reformation eine kleine Marienkapelle. Nach ihrem Abriss wandelte sich der Ort: Nun wurden die Mörder, die Selbstmörder, die Ungetauften zwischen den alten Mauern verscharrt - in ungeweihter Erde, also der ewigen Verdammnis überlassen. Immer wieder lässt uns die Grausamkeit dieser Zeit, auch Kindern gegenüber, erschauern; und lässt uns sinnieren über das Weltbild vergangener Zeiten, lässt uns nachdenklich werden über unsere Welt heute. Und wir setzen uns still auf die dortige Bank.

die leuchtenden Glasstelen







Diesen Anstoß, über Toleranz und Gerechtigkeit nachzusinnen und eine Hoffnung auf Menschlichkeit zu erahnen, will das gläserne Kunstwerk des Künstlers Fritz Mühlenbeck geben - das auch in die Nacht hineinleuchtet. Der Künstler sagt
dazu: "
Zwei Flügelpaare kommen aus der Erde, die symbolhafte Befreiung der „auf ewig verdammten“ Seelen, die sich aufschwingen und die Erde verlassen. Die Flügel lösen sich in Federn und Daunen auf, und die Seelen entschweben in die Unendlichkeit."


 Und wir fragen noch am Schluss: Wer wagte es einst, sich im Dunkeln, an der uralten Klostermauer entlang zum sumpfigen See zu schleichen, um dem toten Kind, das ungetauft vergraben worden war, eine Blume zu bringen? Und damit  - gegen die offiziellen, harten Positionen der Kirche gerichtet - die Unschuld dieses Kindes zu beschwören...

Ein einfacher, aber außergewöhnlicher Grenzstein

Wie schon einmal erwähnt: Unsere Initiative Kultur am Stift kümmert sich seit langem um die historischen Grenzsteine Sindelfingens und der Umgebung. Nach Anregung von uns und in bester Zusammenarbeit mit dem Vermessungsamt und dem Sindelfinger "Stadtgrün" wurde nun im Juli 2014 ein außergewöhnlicher Grenzstein im Propsteigarten aufgestellt. Auf der kleinen beigefügten Informationstafel heißt es:

"Dieser Grenzstein stand einst innerhalb der Sindelfinger Markung. Denn er grenzte mit anderen Steinen eine Wiese ab, die nicht weit entfernt an der Wurmbergstraße 31 lag. Das Nutzungsrecht für diese Wiese gehörte vor langer Zeit dem Propst des Sindelfinger Stifts. Nach der Reformation aber durfte der Verwalter des Stifts, das dem Herzogtum und später dem Königreich Württemberg gehörte, diese "Besoldungswiese" für sich nutzen; der Stein trägt deshalb die württembergische Hirschstange. Ein solcher spezieller Grenzstein erzählt also von alten Zeiten und ist sehr selten. Nun hat er seinen Platz hier im Garten, an dem sich einstmals die Pröpste und die Stiftsverwalter erfreuten."


Und hier links sind zwei der Sindelfinger Forscher zu sehen. In nachdenklicher Betrachtung des in tiefer Waldklinge gelegenen Steins Nr. 100 versunken - so versunken, wie es dem gestürzten Stein am Sommerhofenbach drohte. Aber er wurde schließlich doch gerettet... 

Seit im Sommerhofental, dort wo es an den "Winterhalde" genannten Wald grenzt, ein beschilderter Informationsweg zum Thema "Sindelfinger Grenzsteine" eingerichtet worden ist, erkennen wir hier in Sindelfingen
einen besonders engagierten Umgang mit diesen wichtigen Kleindenkmalen, die so viel über unsere Vergangenheit erzählen können. Wenn man sie lässt...
ein mächtiger Stein - in einsamster Lage

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