13 September 2015

Moritaten am Armesünderfriedhof

vorgetragen am 11. September 2015 bei der Wiedereinweihung des Kunstwerks von Fritz Mühlenbeck - nach seiner Beschädigung im Mai 2015 

  
Moritat 1

Lasst uns für´s alte Sindelfingen,
das ihr dort drüben liegen seht,
die Kund´ vom Totenacker bringen,
wo leiser Wind am See verweht.

Ach Welt, wo bleibt denn dein Erbarmen
Wenn tief im Elend, ohne Mut,
auch noch das Unglück trifft den Armen,
der hilflos nun - das Falsche tut.

Ein Kaleidoskop von Bildern voller Fragen,
für uns, die wir hier voller Hoffnung stehn,
und heute nochmals mutig wagen,
sich vor der Unvernunft nicht wegzudrehn.

Unruhig spür´n wir hier ein weit´res Mal
die Härte einer scheinbar fernen Zeit,
erkennen sie als kräftig mahnendes Fanal
und bleiben doch in Menschlichkeit bereit.

                                                                                     
Moritat 2
                                                          
Nun stehn wir da, im Angesicht der frühen Nacht,
unruhig fühlend das Schwinden unsrer Sicherheit.
Das Bild der Welt, die sich der Mensch gemacht,
bestürzt uns sehr in seiner Gegensätzlichkeit.

Ach, im rasend schnellen Wandel unsrer Welt,
im kreischend Scherbensplitter aller Sicherheiten
steht fest die alte Frag´, was uns im Innersten zusammenhält;
welch´ Lebensform uns führt in friedlich Zukunftszeiten.

Das Ziel der Worte war´s, darüber nachzudenken.
Zur Mahnung und Erinn´rung steht nun ab diesen Tagen
wieder hier das Stück aus lichtem Glas, der armen Seelen Angedenken
am Ort, wo wir uns selbst zu unserer Moral befragen.

Das Glas, Symbol all unserer Zerbrechlichkeit im Leben,
gewinnt die Kraft durchs Farbenspiel im reinen Licht,                                                     es mag zersplittern unter unverständig schweren Schlägen,
aber vernichtet werden kann es nicht.

Zieht nun das Tuch herab von dieser gläsern Kunst,
denn dieser Welt gibt Kunst die Seele. Und im Gedenken
an all das Leiden löset sich jahrhundertalter Dunst -
und gibt uns Licht, die Welt und unser Tun zu überdenken.



Wiederaufbau des Kunstwerks im September 2015 (Foto: phil)



03 August 2015

Magische Formeln in der Altstadt

die magische Helix in der Abtgasse

Ein Poetischer Ort erinnert an die Zeiten, als in und an den alten Fachwerkhäusern magische Formeln und  Formen die vielen drohenden Unglücksfälle in dieser engen Welt beschwören sollten: Feuer, Krankheiten, Unfälle, Unwetter...

Sie sind fast ganz verschwunden: Sprüche, Formen und Figuren ins Holz der Fassaden geschnitzt. Und in den Häusern gab es Bücher oder handschriftliche Hefte mit unzähligen magischen Formeln für und gegen alle möglichen Probleme: Sogenannte "Grimoires", also Zauberbücher, wie z.B. "Das sechste und siebte Buch Mosis", das "Romanus-Büchlein", das "Christoph-Gebet". Oft mühselig abgeschrieben, um Geld zu sparen oder auch um damit schon Wirkung fürs Haus, die Menschen und die Tiere zu provozieren. Beispiele dafür sind auch in Sindelfingen gefunden worden. Darunter auch die uralte Sator-Arepo-Formel, die als vierfaches magisches Palindrom vor allem die Feuersgefahr bannen sollte (siehe Bild). Sie findet sich am Holzfundament, das an einen alten Hauspfosten erinnern soll. Und dieses wiederum findet der Besucher in der Abtgasse, im Teil der Sindelfinger Altstadt, der einst besonders verwinkelt gewesen ist.  

die alte Sator-Arepo-Formel auf dem Sockel
Uns interessierte aber auch die dahinter stehende Weltsicht der Menschen; mit ihrer festen Überzeugung, dass sich hinter unserer Alltagswelt eine andere Welt mit guten, aber auch vielen bösen Mächten befindet, die durch die erwähnten magischen Praktiken beeinflusst werden können - sie müssen nur sehr genau befolgt werden. Genau diese Welt sollte das Kunstwerk der Holzbildhauerin Heike Endemann widerspiegeln - eine Aufgabe, die die Künstlerin mit ihrer helixartigen, drehbaren Stele großartig umgesetzt hat. 

Aber die Thematik führt weiter in unsere heutige Zeit hinein...


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Bei der Aufstellung des Kunstwerks: die Künstlerin Heike Endemann und die hilfreiche Firma Walker.

Denn beim Nachdenken über die an die Form der menschlichen DNA erinnernden Helix kommt eine ganz moderne Erkenntnis ins Spiel: Die Tatsache, dass auch die heutigen wissenschaftlichen Formeln und Formen einen klaren magischen Charakter haben. Denn in ihrer mathematischen Form und Abstraktion stellen sie auch nur Symbole dar, die die Struktur unserer Welt nur scheinbar präzise wiedergeben. Denn die ist nicht erkannt und wird vielleicht auch nie erkannt werden. So ist die nobelpreisgewürdigte Helix nicht die Lösung des Geheim-nisses des Lebens, sondern sie ist das Geheimnis des Lebens.


Schlussbild der am Projekt Beteiligten vor dem Kunstwerk (Fotos: Kultur am Stift)

Deshalb wandeln sich die auf der Stele angebrachten Zauberformeln beim Höherschrauben von den archaischen Beispielen Schritt um Schritt hin zu modernen wissen-schaftlichen Formeln - oder gar zum an der Börse genutzten Algorithmus, den wir auch als Beschwörungsformel verstehen.

(Kultur am Stift bedankt sich bei allen Unterstützern dieses Projekts, insbesondere auch für eine Spende von der Stiftung der Landesbank Baden-Württemberg - LBBW.)


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