09 Januar 2024

Poetischer Text zur Sindelfinger Webereigeschichte: der letzte Strumpfweber

 "Stierles Abschied"

historisches Foto eines Strumpfwebers um 1900

 „Als ich von Ihrer Anzeige in der Zeitung benachrichtigt wurde, Meister Stierle, bin ich gleich von Stuttgart heraufgekommen“, erklärte der bärtige, elegante Antiquitätenhändler. Sie standen beide im letzten Licht des Septembertages im verwilderten, malerischen Gemüsegarten des kleinen Hauses in der Grabenstraße. Es begann schon kühl zu werden, hier unten, im ehemaligen Stadtgraben, unterhalb einer Reihe bescheidener Häuschen. Hier stand die Welt still. Die Blätter wurden blau und begannen leise zu singen.

Webmeister Stierles Haus, Grabenstraße 28, wie es im Jahr 2010 noch ausgesehen hat; hinter dem Haus der historische Stadtgraben...

„Man hat Sie mir angekündigt. Schauen Sie, mein Herr, hier ist es doch noch immer schön, oder?“, flüsterte jetzt der alte, gebeugte Mann. Der Gast nickte: „Ich erahne Ihren Schmerz, dass gerade Sie als Zunftvorstand den letzten Strumpfwebstuhl Sindelfingens mir verkaufen müssen, aber...“

Stierles Anzeige 1870 im "Böblinger Boten"

 „Es ist gut! Es ist gut! Kommen Sie!“ In Stierles runder Brille spiegelten sich alle Farben seiner zehntausendfach geträumten und gewebten Kinderstrümpfe, Kinderlachen wehte vorbei, eine Taube gurrte. Das Haus wurde noch kleiner und melancholischer; in seinem obersten Fenster schien sich gerade noch die untergegangene Sonne zu spiegeln, glutrot.

 Eine Tür wurde aufgerissen. „Um Gottes Willen, Mathias, dein Webstuhl! Komm!“ Die beiden Männer eilten an der Frau vorbei die enge Treppe hinauf; im ersten Stock flatterten bunte Kinderstrümpfe wie Schmetterlinge davon, schwebten glitzernde Haken und Ringe durch die Wände nach außen, Schrauben und Muttern, Nieten und Nägel hüpften die Treppe herunter und verschwanden, Stierle griff durch die kristallene, zu Perlen zerstäubende Mechanik hindurch ins Leere, Kerzen zerschmolzen, ein Traum löste sich auf. Sie schauten sich an, bevor der alte Webmeister die Tür der obersten Wohnstube, der Arbeitsstube, vorsichtig öffnete. Das dämmrige Zimmer war völlig leer; am Boden verblasste ein Farbfleck. „Der Webstuhl hat alles mitgenommen, alles, auch meinen Meisterbrief dort an der Wand, tut mir Leid, es ist nichts mehr da“, flüsterte Stierle und nahm die Brille ab.



 Im Gedenken an Jürgen Werner

Voller Trauer haben wir gestern vom viel zu frühen Tod unseres Freundes Jürgen Werner erfahren. 

Mein erster Kontakt zu ihm waren die Aktionen von der Greenpeace-Ortsgruppe Sindelfingen, bei der er engagiert war. Später intensivierte sich eine Zusammenarbeit durch unser gewerkschaftliches Engagement; bei Jürgen war dies auch ergänzt durch seine Unterstützung für die von der Streichung gefährdete Betriebsseelsorge. Alles wurde übertönt durch die Begeisterung des Mathematikers Jürgen Werner für die klassische Musik. Da mussten oft andere Dinge warten.

Auch unsere Initiative "Kultur am Stift" ist von Jürgen unterstützt worden - materiell, aber auch - immer voller Freude - durch eine konkrete Zusammenarbeit. An die wollen wir hier erinnern mit einem kleinen Drei-Minuten-Ausschnitt aus einem der fünf Filme mit fiktiven Interviews zum Thema August Schäfer. Schäfer, der vom Sindelfinger Historiker Fritz Heimberger "der erste Sindelfinger Demokrat" genannt wurde und 1837 zu früh im Straßburger Exil starb, war Thema eines Informationsabends unserer Reihe "Vergessene Sindelfinger", der durch diese fünf Filme ergänzt wurde.

Jürgen hatte die Rolle des (fiktiven) Schäferschen Jugendfreundes Friedrich August Kolbe übernommen, der im Jahr 1853 an ihre Stuttgarter Zeit zurückdenkt und dabei auch die damalige politische Situation umreißt

phil


Filmausschnitt: Kultur am Stift und Hans Knauß


07 Januar 2024

Der Poetische Ort “Die Welt im Bauerngarten” 

Im Jahr 2016 packte "Kultur am Stift" das Projekt eines neuen "Poetischen Orts" an. Es ging dabei um den an der Ziegelstraße neben dem Chorherrenhaus gelegenen alten Bauerngarten. Um unsere Intention zu beschreiben, zitieren wir aus der Projektbeschreibung für die Künstlerin Linde Wallner:


Die neun Stelen der Linde Wallner

"Als nächster Poetischer Ort ist der Bauerngarten, der zum Komplex des Sindelfinger Chorherrenhauses gehört, angedacht. Der Bauerngarten ist mit seiner Kreuzstruktur traditionell angelegt und wird durch das Sindelfinger "Stadtgrün" gepflegt. Seine direkte Umgebung ist das sogenannte Chorherrenhaus, aufwendig restauriert, aus dem 15. Jahrhundert stammend. Mit der mittelalterlichen Welt der Chorherren befinden wir uns in einem Umfeld höchster Bildung. 

Zum Haus gehört ein kleines Waschhaus, auch die dahinter stehende ehemalige Scheune, heute Atelierhaus, auch mit Fachwerkfassade. Zwar sind die kleinen Ställe alle verschwunden, aber es ist verblüffend, dass mitten in Sindelfingen ein ehemaliges Gehöft noch so gut erkennbar steht. Wir wollen mit einem Kunstwerk auf diesen Schatz aufmerksam machen. Denn er ist in seiner überraschend bestehen gebliebenen Struktur und als Erinnerung an das Bauernstädtchen Sindelfingen sehr vielen Menschen nicht mehr präsent, obwohl dieser Komplex bis weit ins 20. Jahrhundert hinein landwirtschaftlich genutzt gewesen ist. 

Der Bauerngarten ist schon auf dem frühen Plan Sindelfingens von 1830 gut zu erkennen. Im kleinen, sehr engen Städtchen Sindelfingen hat es nicht viele solcher Bauerngärten gegeben, weil in den allermeisten Fällen der Platz für einen solchen Garten nicht vorhanden war und weil der klassische Bauerngarten nicht nur intensiv genutzter Nutzgarten gewesen ist, sondern durchaus auch Ziergarten gewesen ist; zeitweise galt dieser Teil dann als "verschenkter Platz". Eigentlich aber war der Garten der Stolz jeder Bäuerin mit seiner überquellenden Gemüse- und Blumenfülle, auch den Heilkräutern, die von Buchsbaum eingefasst wurden, der Blitze, Krankheiten und Hexen abwehren sollte. 

Plan von 1830; der Pfeil weist auf den Garten

Damit eingefasst waren auch die sich kreuzenden Wege, die den Garten in vier gleichgroße Teile zerschnitten. Diese Kreuzform im Garten, geradezu das "Rückgrat" des Gartens, war dann durchaus auch religiös gedeutet: Das Kreuz christlich als Heilszentrum, die vier abgehenden Wegarme als die vier Flüsse zum Garten Eden. 

Dieses Zentrum des Gartens, das oft mit einem kleinen Pavillon oder manchmal auch mit einer Heiligenfigur oder einer kleinen Brunnenanlage symbolisch überhöht war, ist unser Ort für ein Kunstwerk."

Linde Wallner im Gespräch mit Horst Uhel im Weinlaub des Chorherrenhauese

Die Herrenberger Künstlerin Linde Wallner, leider inzwischen verstorben, hat mit ihrem Werk die kulturhistorische Bedeutung der Bauerngärten ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt. Ihre neun Keramikstelen symbolisieren die Schutzgöttinnen der Künste, die Musen, Frauengestalten der griechischen Mythologie. Das passt zu den humanistisch gebildeten Chorherren des späten Mittelalters und die Tatsache, dass die Bauerngärten von den Bäuerinnen gepflegt worden sind. 

Unter vielen weiteren symbolischen Zusammenhängen greifen wir die Besonderheiten der Zahl Neun auf und lassen hier den Text des Einweihungsabends folgen:

Die Rede der Neun

Ich bin die Neun. Ja, ich bin die Neun - und freue mich durchaus, dass man in diesem Garten hier an mich gedacht hat. An die Neun. Wegen der neun Stelen hier.

Vielen Dank. Ist ja nicht so selbstverständlich. Was gelten denn die Zahlen heutzutage noch über die bloße Informationsvermittlung von Mengenangaben hinaus? Was? Wer sieht mich, die Neun, noch als Zahl der Vollkommenheit? Ja, der Vollkommenheit!

Schließlich bin ich die Zahl, in der die göttliche Zahl Drei dreimal enthalten ist. Merkt ihr´s? Wisst ihr´s? Nein, ich seh´s euch an, ihr wisst es nicht mehr. Auch nicht, dass mit den alten, klassischen Werkzeugen, also Zirkel und Lineal, ein wahres Neuneck nicht konstruiert werden kann. Nie und nimmer. Hoffnungslos. Geht bei mir nicht!

Ja, mit dem Quadrat, dem Sechseck, auch dem Achteck geht das. Es sind die Langweiler der geraden Zahlen, die alles mit sich machen lassen. Nicht mit mir. Natürlich auch mit meinem Bruder, der Sieben, geht das nicht. Wir ungeraden Zahlen sind etwas besonderes.

Ja, ich hab´s euren Gesichtern angesehen, das Funkeln in den Augen bei meiner Erwähnung der Sieben. Ja, die ist eine harte Konkurrenz für mich, aber auf faire und liebenswürdige Art. Wir sind verwandt: Die Sieben entstanden aus der erwähnten göttlichen, geistigen Drei und der Vier, der Zahl der Elemente, der Materie - also alles umfassend. Gebe ich zu, ist unschlagbar: die sieben Sakramente, die sieben Todsünden, die sieben  Weltwunder, die sieben Wochentage, ja, auch die sieben Zwerge und, und, und.

Aber ich verstecke mich nicht. Ach, du grüne Neune, sagt man doch, wenn beim Kegeln alle Neune fallen? Fällt euch Siebengescheite nicht gleich der Neunmalkluge ein? Und die neun Monate der Schwangerschaft und die neun Musen der griechischen Mythologie, sind die nichts? Thalia, Clio, Erato, Urania, usw. Ihr kennt sie ja.                                                         

Bin ich was? Was bin ich? Es summt in meinem Kopf, es ist die Musik, sie lässt mich nicht los. Warum haben so viele Komponisten es genau zu neun Sinfonien gebracht? Nur vier Beispiele: Beethoven, Bruckner, Dvorak, Mahler - Mahler, der sie dem Thema Tod und Abschied widmet. Dachte er an die neun Höllenkreise - oder an die neun Engelshierarchien? Wie interpretiert ihr das?

Worüber philosophieren wir hier? Merkt ihr etwas? Von welchen Höhen wir herabsteigen, wenn wir ins  - wie nennt ihr es noch? - digitale Zeitalter gleiten? Ich muss mich festhalten, mir schwindelt. Was bin ich euch noch wert? Ich kann es fast nicht aussprechen: Die digitale Welt kennt nur noch die Ziffern Null und Eins! Nicht einmal den größten Langweiler, die Zwei, gibt es da mehr!  Die Zahlen sind nur noch Zeichen. Mich schreibt man da 1-0-0-1. Schrecklich. Und erkennt´s :  So kann es keine magischen Quadrate mehr geben! Mein Gott!

Meines ist zwar das kleinste Quadrat, mit allen neun Ziffern und der einzig möglichen Quersumme 15. Genau das Quadrat, das hier - schauen Sie -  in diesem  Werk der neun Stelen, seine Form sucht und den Bauerngarten behüten soll. Das Rettende naht.

Nun, ich entlasse Sie alle mit Dank für Ihre Sympathie für alle Zahlen und wünsche…

Oh, halt! - Eine Sache darf nicht fehlen, um sie Ihnen mit auf den Weg zu geben. Das sage ich mit lächelndem Stolz: Ich, die Neun, bin die einzige Ziffer, die nach der Multiplikation mit einer beliebigen ganzen Zahl am Schluss in der Quersumme immer wieder selbst auftaucht.  Probiert´s:  Drei mal neun gleich 27:  2 und 7 ist neun.  Fünfzehn mal neun ist 135; ja, 1 und 3 und 5 gibt  - 9.  Einhundertsechsundzwanzig mal neun ergibt 1134 ! Und 1 und 1 und 3 und 4 – ach, rechnet selbst. Sechshundertsechsundsechzig mal neun ist gleich 5994. Zähle ich davon, von 5994, nun die Quersumme ergibt sich -  27. Also 2 und 7 gleich...Wir ahnen es nicht nur, wir wissen es.

Das Geheimnis der Neun. Unerklärbar, magisch. Einzig, einzig  Giuseppe Balsamo, genannt Graf Cagliostro, Alchemist, war der Lösung nahe, starb aber in eine winzige Zelle eingemauert in der italienischen Festung San Leo.  1795.

Ich ziehe mich ins Analoge zurück.




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