22 Juni 2024

Der Auftakt der Poetischen Orte: ein Taubenschlag

 

Der Taubenschlag im schönen Propsteigarten

Fünf „Poetische Orte“ hat die Initiative „Kultur am Stift“ in der Sindelfinger Innenstadt initiiert. Künstlerinnen und Künstler haben sich darauf eingelassen, auf einen vergessenen kulturhistorischen Ort künstlerisch zu reagieren. Eine Idee, auf die uns der italienische Schriftsteller und Künstler Tonino Guerra gebracht hatte. Er hatte so formuliert: „Poetische Orte sind sichtbare Gedichte, sind Stätten, an denen sich weitere Dimensionen öffnen. Diese Faszination nennt ein Dichter manchmal magisch.“

Einen allerersten Versuch haben wir mit einem Taubenschlag im Propsteigarten neben der Martinskirche angepackt. Die Erinnerung an die Welt des Chorherrenstifts und des Kloster sollte durch ein „Kolumbarium“, geweckt werden. Denn mit dem Taubenschlag, wie es ihn früher an fast allen Klöstern gegeben hat, manchmal sogar in Kapellen integriert, traf sich das Symbol des Heiligen Geistes und des Friedens mit materiellen Zwecken, bei denen es um den „Taubenbraten“ und die Gewinnung von Taubendünger ging. Manchen der Bauten gab man sogar eine prächtige Architektur.

Am Anfang unserer Thematik stand also noch nicht die künstlerische, sondern die handwerkliche Umsetzung; sagen wir: Das Engagement und die Handwerkskunst des Jürgen Wald. Das Bild zeigt es: Der Propsteigarten wurde so gestalterisch wie kulturhistorisch aufgewertet und motivierte so die Gruppe „Kultur am Stift“, aber auch die Stadtverwaltung, die Idee der „Poetischen Orte“ weiter zu verfolgen.

Jürgen Wald beim Aufbau des Taubenschlags (Fotos: phil)

Webereigeschichte Sindelfingen: Die "wilde Zeit" am Beispiel des Gebäudes Leonberger Straße 2

Mittlerweile ist die eigene Textil- und Webereigeschichte in Sindelfingen wieder ins Blickfeld geraten. Aber um welche Dimensionen es dabei ging, ist doch noch immer nicht ganz ins Bewusstsein gedrungen. Deshalb schauen wir uns unter dem Titel „Die wilde Zeit der Sindelfinger Webereigeschichte“ einmal die Geschichte des Hauses Leonberger Straße 2 an, die zwar noch heute vom Namen Wilhelm Dinkelaker dominiert wird. Aber dem genauen Betrachter flattern alleine als Besitzer und Mieter dieses Hauses die Namen Haid und Spring, Dörr, Graser, Grässle, Schlegel, Wizemann, Knaebel, Kazenwadel und Sandel um die Ohren und Augen. Welche Turbulenz, welche Schicksale tun sich da auf! Und welche Vielfalt der Produkte: Seide, Korsetten, Baumwollwaren wie Piquéstoffe, Tapisseriewaren, Stramine und Nesselwaren. Schauen wir uns das Gebäude also etwas genauer an und bedenken dabei, dass es hier um eines von mehreren Sindelfinger Beispielen geht...

·        1833 Fertigstellung des Gebäudes Leonberger Straße 2 als Cholera-Krankenhaus.

Das Haus von 1832 in seinem Zustand in den 1980er Jahren als Jugendhaus (Ausriss aus der SZBZ von 1988)

·        1835 Haid & Spring, Stuttgarter Seidenwarenfabrikanten mit einem Geschäft in der Königstraße, kaufen das Haus und verlegen ihre Produktion nach Sindelfingen.

·        1840 Conrad Dörr ist hier der Werkmeister; er stammt aus Hanau, einer Stadt mit großer Seidenwebereitradition, ist ausgebildet in der „Seidenhauptstadt“ Krefeld; erste Jacquard-Stühle werden in der Sindelfinger Manufaktur aufgestellt.

·        Um 1850 gibt es eine enorme wirtschaftliche und politische Krise in Württemberg; Steueransätze müssen erniedrigt werden; hohe Auswanderungsrate.

·        1854 Spring steigt aus dem Geschäft aus und produziert in Stuttgart weiter; sein Werkmeister ist Conrad Dörrs Sohn Carl.

·        1858 auch Haid stellt nach manchen wirtschaftlichen „Abwechslungen“ den Betrieb ein; Werkmeister Dörr macht nun in wenigen Räumen alleine weiter.

Anzeige im Böblinger Boten ca. 1858

·        1860 kauft die Stadt das Gebäude an für einige Krankenzimmer und zwei „Irrenlokale“; Conrad Dörr kündigt daraufhin und zieht sich in die Seemühlestraße zurück; sein Sohn Carl Dörr scheitert mit einem Mietvertrag.

·        1862 werden die Zünfte in Württemberg aufgehoben: Es entsteht eine freie Konkurrenzsituation.

·        1862 gibt es neue Vermietungen: der Korsettweber Christoph Graser belegt Räume, auch die Göppinger Korsettfabrik Steinhardt, Herz & Cie mietet sich ein; zwei weitere Säle belegt der aus Horb stammende Piquéwarenfabrikant Fidel Leopold Gräßle.

·        1863 Gräßle „entweicht“ nach Konkurs über Nacht und hinterlässt die gesamte Ausstattung (mit Webstühlen, Kleidung, Geschirr und dänischer Dogge), was alles versteigert wird.

Anzeige im Böblinger Boten 1863

·        1863 Wizemann & Schlegel (Baumwollwaren) aus Stuttgart kaufen nun das für die Stadt „zu große“ Haus um 9500 Gulden; die Krankenzimmer müssen geräumt werden; neben Schlegel sind die Brüder Johannes und Martin Wizemann Besitzer.

·        1865 steigt „Associé“ Johann Knaebel, der aus dem Badischen stammt, ins Geschäft ein, der aber bald wieder aussteigt; auch Schlegel steigt aus und kauft das Gasthaus „Schwanen“ am Rathaus

·        1869 verkauft das Brüderpaar Wizemann das Haus für 12500 Gulden an die Firma Kazenwadel & Sandel Tapisseriewaren; Johannes Wizemann produziert in der Unteren Vorstadt 11 weiter (tituliert als Fabrikant, Kaufmann, Gemeinderat, Vorstand des Gewerbevereins und der Pietistengemeinde).

·        1874 tritt Kazenwadel aus der Firma aus; Sandel macht relativ erfolgreich alleine weiter und erweitert den Gebäudekomplex; zeitweise100 Beschäftigte.

·        1885 Sandel vergrößert weiter (neuer Bahnhof in Böblingen bringt Aufschwung!), übernimmt sich aber und geht in Konkurs; verlässt Sindelfingen.

·        1885 kauft der auch in Frankreich ausgebildete Sindelfinger Wilhelm Dinkelaker um 31500 Gulden alles Verbliebene (u.a. 42 Webstühle) auf, mechanisiert 1888; die Firma entwickelt sich als Jacquard-Weberei zu einem „Spitzenplatz gehobener Weberei“.

·        1910 völlige Mechanisierung und erhebliche Erweiterungen.


Briefkopf der Firma Dinkelaker (der Bau von 1832 steht ganz rechts in der Zeichnung; hinten rechts die Martinskirche; Original im Stadtarchiv)

Belegschaft der Firma Dinkelaker im Jahre 1900 (Stadtarchiv)

·        1959 Nach einer 75jährigen Erfolgsgeschichte: Aufgabe und Abriss aller Fabrikationsgebäude; Übernahme des Geländes durch die Stadt Sindelfingen, die dort eine Realschule errichtet; der älteste Bau bleibt als Stadtverwaltungsgebäude allerdings bestehen, wird zeitweilig Jugendhaus und dann ans Landes-Lehrerseminar vermietet (noch heutige Situation).


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