Mittlerweile ist die eigene Textil- und Webereigeschichte in Sindelfingen wieder ins Blickfeld geraten. Aber um welche Dimensionen es dabei ging, ist doch noch immer nicht ganz ins Bewusstsein gedrungen. Deshalb schauen wir uns unter dem Titel „Die wilde Zeit der Sindelfinger Webereigeschichte“ einmal die Geschichte des Hauses Leonberger Straße 2 an, die zwar noch heute vom Namen Wilhelm Dinkelaker dominiert wird. Aber dem genauen Betrachter flattern alleine als Besitzer und Mieter dieses Hauses die Namen Haid und Spring, Dörr, Graser, Grässle, Schlegel, Wizemann, Knaebel, Kazenwadel und Sandel um die Ohren und Augen. Welche Turbulenz, welche Schicksale tun sich da auf! Und welche Vielfalt der Produkte: Seide, Korsetten, Baumwollwaren wie Piquéstoffe, Tapisseriewaren, Stramine und Nesselwaren. Schauen wir uns das Gebäude also etwas genauer an und bedenken dabei, dass es hier um eines von mehreren Sindelfinger Beispielen geht...
·
1833
Fertigstellung des Gebäudes Leonberger Straße 2 als Cholera-Krankenhaus.
![]() |
Das Haus von 1832 in seinem Zustand in den 1980er Jahren als Jugendhaus (Ausriss aus der SZBZ von 1988) |
·
1835
Haid & Spring, Stuttgarter Seidenwarenfabrikanten mit einem Geschäft in der Königstraße,
kaufen das Haus und verlegen ihre Produktion nach Sindelfingen.
·
1840
Conrad Dörr ist hier der Werkmeister; er stammt aus
Hanau, einer Stadt mit großer Seidenwebereitradition, ist ausgebildet in der „Seidenhauptstadt“
Krefeld; erste Jacquard-Stühle werden in der Sindelfinger Manufaktur aufgestellt.
· Um 1850 gibt es eine enorme wirtschaftliche und politische Krise in Württemberg; Steueransätze müssen erniedrigt werden; hohe Auswanderungsrate.
· 1854 Spring steigt aus dem Geschäft aus und produziert in Stuttgart weiter; sein Werkmeister ist Conrad Dörrs Sohn Carl.
·
1858
auch Haid stellt nach manchen wirtschaftlichen „Abwechslungen“
den Betrieb ein; Werkmeister Dörr macht nun in wenigen Räumen alleine weiter.
![]() |
Anzeige im Böblinger Boten ca. 1858 |
·
1860
kauft die Stadt das Gebäude an für einige Krankenzimmer und zwei „Irrenlokale“;
Conrad Dörr kündigt daraufhin und zieht sich in die Seemühlestraße zurück; sein
Sohn Carl Dörr scheitert mit einem Mietvertrag.
·
1862 werden
die Zünfte in Württemberg aufgehoben: Es entsteht eine freie
Konkurrenzsituation.
·
1862
gibt es neue Vermietungen: der Korsettweber Christoph Graser
belegt Räume, auch die Göppinger Korsettfabrik Steinhardt,
Herz & Cie mietet sich ein; zwei weitere Säle belegt der aus Horb stammende
Piquéwarenfabrikant Fidel Leopold Gräßle.
·
1863 Gräßle „entweicht“
nach Konkurs über Nacht und hinterlässt die gesamte Ausstattung (mit Webstühlen,
Kleidung, Geschirr und dänischer Dogge), was alles versteigert wird.
![]() |
Anzeige im Böblinger Boten 1863 |
· 1863 Wizemann & Schlegel (Baumwollwaren) aus Stuttgart kaufen nun das für die Stadt „zu große“ Haus um 9500 Gulden; die Krankenzimmer müssen geräumt werden; neben Schlegel sind die Brüder Johannes und Martin Wizemann Besitzer.
·
1865
steigt „Associé“ Johann Knaebel, der aus dem
Badischen stammt, ins Geschäft ein, der aber bald
wieder aussteigt; auch Schlegel steigt aus und kauft das Gasthaus „Schwanen“ am
Rathaus
·
1869
verkauft das Brüderpaar Wizemann das Haus für 12500 Gulden an die Firma Kazenwadel & Sandel Tapisseriewaren; Johannes Wizemann
produziert in der Unteren Vorstadt 11 weiter (tituliert als Fabrikant,
Kaufmann, Gemeinderat, Vorstand des Gewerbevereins und der Pietistengemeinde).
·
1874
tritt Kazenwadel aus der Firma aus; Sandel macht relativ erfolgreich alleine weiter und
erweitert den Gebäudekomplex; zeitweise100 Beschäftigte.
·
1885
Sandel vergrößert weiter (neuer Bahnhof in
Böblingen bringt Aufschwung!), übernimmt sich aber und geht in Konkurs;
verlässt Sindelfingen.
·
1885
kauft der auch in Frankreich ausgebildete Sindelfinger Wilhelm
Dinkelaker um 31500 Gulden alles Verbliebene (u.a. 42 Webstühle) auf,
mechanisiert 1888; die Firma entwickelt sich als Jacquard-Weberei zu einem „Spitzenplatz
gehobener Weberei“.
·
1910
völlige Mechanisierung und erhebliche Erweiterungen.
![]() |
Briefkopf der Firma Dinkelaker (der Bau von 1832 steht ganz rechts in der Zeichnung; hinten rechts die Martinskirche; Original im Stadtarchiv) |
![]() |
Belegschaft der Firma Dinkelaker im Jahre 1900 (Stadtarchiv) |
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen