23 April 2024

 Genesis Kapitel 1, Vers 1

Es wird wohl ein Geheimnis bleiben, wie in das Dachgeschoss des schönen Fachwerkhauses in der Stiftsstraße neben den netten floralen Ausmalungen ein Text geraten ist, der uns verblüfft. Wer genau hinschaut, erkennt nämlich hebräische Schriftzeichen, noch gut lesbar erhalten.

florale Ausmalung unterm Dach
(Foto: G. Plott)


Das Haus in der Stiftstraße. Unter dem Dach die
hebräische Schrift. (Foto: Philippscheck)



















Welcher Text hier begonnen wurde, ist sogar angegeben: Es sind die allerersten Worte des Alten Testaments, also „Genesis Kapitel 1 Vers 1“. Wer hat diesen Text in Hebräisch, also der „Urform“ des Alten Testaments, an die Wand geschrieben oder schreiben lassen? War der Raum unter dem Dach eine kleine Studierstube, die man mit Pflanzenmotiven wohnlich gemacht hat?

der hebräische Text - die ersten drei Worte - auf dem Putz; darunter Textteil 
mit den Worten "Wasser" und "Erde" (Foto: G. Plott)
zum Vergleich: ein gedruckter Text (von rechts nach links zu lesen; Wikipedia)

Wir können nur vermuten. Das Haus wurde 1681 an Stelle eines ehemaligen Chorherrenhauses neu erbaut und 1692 an die Stadt Sindelfingen verkauft, die es als Lateinschule nutzen wollte. Aber schon wenige Jahre später hat es der damalige Sindelfinger Pfarrer Matthäus Roschitz erworben, dessen Epitaph aus dem Jahr 1700 sich an der inneren Nordwand der Martinskirche erhalten hat. Er hat sich bei seinem Theologiestudium - wahrscheinlich in Tübingen - natürlich mit der hebräischen Sprache beschäftigen müssen, weil sie neben Altgriechisch und Latein zur Sprache des frühen Christentums gehört. Denn das entstand in einem Umfeld, in dem – so hieß es - das Hebräische als gehobene Sprache der Synagoge und des Tempels, das Griechische als internationale Gelehrtensprache und das Lateinische als Verwaltungssprache der Römer verwendet wurden.

Luther befand die Hebräische Sprache als „die allerbeste und reichste in Worten, rein, heilig“ und unerlässlich für die Schriftauslegung. Denn Gott habe das Alte Testament in Hebräisch, das Neue auf Griechisch verfasst. (Diese seine Einschätzung bedeutete nicht, dass Luther das Judentum wertschätzte. Er hielt die jüdische Auslegung der alttestamenta-rischen Schöpfungsgeschichte für völlig falsch und versuchte vehement, sie zu widerlegen.)

Großen Einfluss auf die Anerkennung des Hebräischen im deutschen Kulturkreis hatte zuvor schon das schwäbische Genie Johannes Reuchlin, der als Humanist, Philosoph, Jurist und Diplomat engen Kontakt zur italienischen Renaissance-Welt in Florenz und Rom hielt. Beeinflusst war er zum Beispiel vom berühmten Pico delle Mirandola, der sehr mutig für eine Vereinigung von Griechentum, Judentum und Christentum plädierte. Reuchlin warb intensiv dafür, das jüdische Schrifttum ernst zu nehmen und es vor der Inquisition zu verteidigen. Unterstützt wurde er dabei von seinem Mentor Johannes Vergenhans, den ehemaligen Sindelfinger Chorherrn. Das Motto der Humanisten hieß dabei „ad fontes“, zurück zu den Quellen des Wissens, zum Beispiel zum hebräischen Alten Testament.

Reuchlin-Münze zum 400. Todestag 1922
von Ernst Barlach (Wikipedia)

Ausschnitt aus der Seite eines Talmud-Textes; eines der vielen hebräischen Originaldokumente,       die Reuchlin gesammelt hatte (Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Reuchlin 2)

Reuchlin konnte 1521 in Tübingen für eine Lehrtätigkeit in Griechisch und Hebräisch angeworben werden, bestellte dazu 100 hebräische Bibeln aus Venedig und rief begeistert aus: „Die Wahrheit wird ausgehen von diesem Lande!“. Die Studenten strömten nach Tübingen, aber Reuchlin starb schon nach kurzer Lehrtätigkeit in Liebenzell, wurde in der Stuttgarter Leonhardskirche begraben. Trotz dieser Situation blieb das Hebräische in einem Auf und Ab seit dieser Zeit Teil der Tübinger Theologenausbildung. Gehört unser Sindelfinger Text in diesen Zusammenhang?


Auf alle Fälle wissen wir: Unser kleiner Text an der Wand eines eindrucksvollen historischen Sindelfinger Hauses ist zwar ein winziger Mosaikstein im großen Bild der allgemeinen kulturhistorischen Entwicklung, aber trotzdem aussagekräftig und Anlass, über komplexe Aspekte der europäischen Geistesgeschichte nachzudenken.


Keine Kommentare:

häufig angeschaut