Aus einer Reihe von "Kultur am Stift": Poetische
Ortserkundung 3
Ein Brief aus Weimar nach Sindelfingen
" Stumm
schaukelte der kleine gelbe Kanarienvogel in seinem Käfig. Denn durch das enge,
nicht ganz klare Fenster kam an diesem Tag nur wenig Sonnenlicht herein.
Trotzdem war zu erkennen, dass in diesem Zimmer überall auf dem Boden und auf
Brettern unzählige Töpfe und Kessel mit
angerührten Farben, auf Regalen allerlei Schalen mit Farbpulvern und Mineralien
standen. An der Wand hingen Hunderte winziger Zettel mit Farbproben, auch mit
hingekritzelten Notizen.
Am Tisch in der hinteren linken Ecke, von der Tür aus
gesehen, saß ein Mann hinter Bücherstapeln und schrieb im Licht einer Öllampe.
Es war still - bis auf das rötliche
Kratzen seiner Feder und das blaue, leise Ticken einer unsichtbaren Pendeluhr.
Plötzlich
ging die Tür auf. Die Frau stand im Gegenlicht, das bunte Tuch um die Schultern
leuchtete sanft. „Jeremias“, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme,
„Jeremias, lies mir vor, bitte, von wem dieser Brief hier ist, der Bote schaute
mich so seltsam an und murmelte etwas von, – ich hab´s nicht recht verstanden
- von Johann Wolfgang Goethe. Mir ist
schwindlig.“
Wie
im Traum erhob sich ihr Mann, Federn schwebten langsam zu Boden. Er nahm den
Brief. Er las. Die Uhr blieb nun stehen. Nach kurzer Pause flüsterte er: „Von
Goethe, mein Gott, er hat mein Manuskript gelesen, endlich. Er lobt mich.“
Ein
lauer Windstoß drückte das Fenster wieder auf. Ein erregtes Wispern lief durch
die engen Gassen bis hin zum Hexensprung: „Der Färber Gülich am Graben soll
einen Brief vom Goethe bekommen haben, direkt aus Weimar! Ja, ja, vom großen
Goethe!“ Ein schmaler, gleißender Sonnenstrahl traf den Vogelkäfig und das Gelb
des Vogels blitzte jetzt auf und wandelte sich zu leuchtendem Gold, hochrotes
Feuerlicht zerstäubend. Gülich öffnete den Käfig, der Vogel drehte kurz den
Kopf zu ihm und flog dann hinaus ins tiefe Blau des Goethischen Himmels."
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