28 November 2023

 Aus einer Reihe von "Kultur am Stift": Poetische Ortserkundung 3

 Ein Brief aus Weimar nach Sindelfingen

Stumm schaukelte der kleine gelbe Kanarienvogel in seinem Käfig. Denn durch das enge, nicht ganz klare Fenster kam an diesem Tag nur wenig Sonnenlicht herein. 

Trotzdem war zu erkennen, dass in diesem Zimmer überall auf dem Boden und auf Brettern  unzählige Töpfe und Kessel mit angerührten Farben, auf Regalen allerlei Schalen mit Farbpulvern und Mineralien standen. An der Wand hingen Hunderte winziger Zettel mit Farbproben, auch mit hingekritzelten Notizen. 


Am Tisch in der hinteren linken Ecke, von der Tür aus gesehen, saß ein Mann hinter Bücherstapeln und schrieb im Licht einer Öllampe. Es war still  - bis auf das rötliche Kratzen seiner Feder und das blaue, leise Ticken einer unsichtbaren Pendeluhr.

 Plötzlich ging die Tür auf. Die Frau stand im Gegenlicht, das bunte Tuch um die Schultern leuchtete sanft. „Jeremias“, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme, „Jeremias, lies mir vor, bitte, von wem dieser Brief hier ist, der Bote schaute mich so seltsam an und murmelte etwas von, – ich hab´s nicht recht verstanden -  von Johann Wolfgang Goethe. Mir ist schwindlig.“

 Wie im Traum erhob sich ihr Mann, Federn schwebten langsam zu Boden. Er nahm den Brief. Er las. Die Uhr blieb nun stehen. Nach kurzer Pause flüsterte er: „Von Goethe, mein Gott, er hat mein Manuskript gelesen, endlich. Er lobt mich.“

 Ein lauer Windstoß drückte das Fenster wieder auf. Ein erregtes Wispern lief durch die engen Gassen bis hin zum Hexensprung: „Der Färber Gülich am Graben soll einen Brief vom Goethe bekommen haben, direkt aus Weimar! Ja, ja, vom großen Goethe!“ Ein schmaler, gleißender Sonnenstrahl traf den Vogelkäfig und das Gelb des Vogels blitzte jetzt auf und wandelte sich zu leuchtendem Gold, hochrotes Feuerlicht zerstäubend. Gülich öffnete den Käfig, der Vogel drehte kurz den Kopf zu ihm und flog dann hinaus ins tiefe Blau des Goethischen Himmels."

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