23 Juni 2024

Was ist ein Chalander?

Um diese Frage für Sindelfingen beantworten zu können, müssen wir in die Geschichte des Hauses Corbeil-Essonnes-Platz 8 schauen.  Zu diesem schönen Haus gehörte früher eine großzügige landwirtschaftliche Struktur  mit Scheune, Stall, Hühnerstall, einem Backhaus – siehe das untenstehende Bild. 

der Leonhardtsche Hauskomplex rot umrandet (Stadtmodell im Stadtmuseum, Collage: phil)

Heute als „Haus der Familie“ genutzt, beherbergte es bis zum 19. Jahrhundert die sogenannte Geistliche Verwaltung, die für die finanzielle kirchliche Struktur des Oberamts Sindelfingen und des gesamten Oberamts Böblingen zuständig war. So blieb es bis 1807, als das Oberamt Sindelfingen aufgelöst wurde. Mit dieser politischen Entscheidung verlor das prächtige Gebäude seine bisherige Funktion als Geistliche Verwaltung – und stand leer. Die Konsequenz im Jahre 1812: Die Königliche Kameralverwaltung Sindelfingen organisierte eine Versteigerung und verkaufte das Haus an den Meistbietenden. Und das war der Sindelfinger Kaufmann Carl Friedrich Leonhardt mit seinem Gebot von 5445 Gulden. 

historische Aufnahme des Leonhardtschen Komplexes, von Westen gesehen (Stadtarchiv)

Leonhardt stammt aus einer gut situierten Sindelfinger Familie, sein Vater war politisch selbstbewusster Landtagsabgeordneter, Chirurg, Barbier und Bürgermeister und Carl Friedrich ist Kaufmann. Und übrigens: Leonhardt war in zweiter Ehe verheiratet mit der Tochter eines Hofjägers der Grafschaft Württemberg-Mömpelgard in Burgund, der Witwe des Böblinger Schlossaufsehers Ganzhorn. Wir können uns also Leonhardt mit seiner Familie in diesem Haus gut vorstellen.  

 

Kaufleute, die sich solche schönen Häuser leisten konnten, gab es in Sindelfingen nur ganz wenige. Wir stellen uns vor: Im Türmchen sitzt seine Frau und bestickt Seidentücher der Jacquardweberei Haid & Spring, die hier nur 250 Meter entfernt lag.

 

Dieser Carl Friedrich Leonhardt war also im Hauptberuf Chalander oder Chaland, das heißt, dass er Spediteur und Reeder, vor allem aber ein offiziell von den staatlichen württembergischen Hüttenwerken mit dem Verkauf ihrer Erzeugnisse beauftragter Kaufmann war, der dieses Handelsrecht durch die Bezahlung einer Taxe erhalten hatte. So durfte nur er am Ort - in seinem schönen Haus - Eisenwaren wie Öfen, Ofenplatten, Messer, Werkzeuge, Stab- und Kleineisen usw. verkaufen. 

 historische Sindelfinger Bürgerliste mit dem Chalander Leonhardt (Google books)

Geliefert wurden die meisten Eisenwaren vom Hüttenwerk Ludwigstal bei Tuttlingen.  Als aber das große Hüttenwerk Wasseralfingen, auf der Ostalb, das zum Fürstbistum Ellwangen gehörte, durch die napoleonische Neuordnung eines Königreichs Württemberg ab 1803 Württemberg zugeschlagen wurde, war Wasseralfingen nun ab 1812 die „Hauptgießerei“ des Landes.

typische Anzeige für Metallwaren (Wikipedia)

Mit der Modernisierung der Produktions- und Vermarktungsstrukturen wurde 1812 auch die historische Struktur der „offiziellen“ Eisenverkäufer, also der Chalander, aufgelöst. Nun war auch Leonhardt der freien Konkurrenz anderer Metallwarenhändler ausgesetzt. Vielleicht als Ergänzung und Erweiterung seiner Aktivitäten erhielt er vom Staat das Recht, eine Bierbrauerei zu betreiben. Außerdem ist er Sindelfinger Stadtpfleger (= Finanzbürgermeister) bis zum Rücktritt in den kurzen Wirren der 48er Revolution. (Er hat  da sicherlich zu den liberalen Kräften gehört, die in Sindelfingen relativ stark waren.)

Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, dass er als Aufwertung seines neuen Hauses das nette Türmchen an der NW-Ecke des Gebäudes anbauen ließ. (Restaurator Lech Accordi weist den Turm ins 19. Jahrhundert, auf der Urkarte von 1830 ist der Turm schon eingezeichnet.)

Carl Friedrich Leonhardt verstarb 1857 und keiner seiner drei überlebenden Söhne hat das Haus übernommen, sondern es wurde durch den Sohn Gustav an Johann Jacob Burger, einen Sindelfinger Leinwandhändler, verkauft. Damit erhielt das Haus eine neue Funktion…

 

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