01 August 2024

Warum der Name „Propsteigarten“ zwar nett, jedoch irreführend ist


der Propsteigarten (links ein Teil der historischen Propstei; hinter der Efeumauer das Westportal der Martinskirche) Foto: phil

Gleich westlich der Martinskirche liegt der malerische Propsteigarten. Er hat seinen Namen von dem historischen Gebäude, das eine seiner vier Seiten bildet: der Propstei; also dem Gebäude, in dem in Zeiten, in denen sich hier noch das bedeutende weltliche Chorherrenstift befunden hat, der Leiter des Stifts, der Propst, seinen Amts- und Wohnsitz hatte. Damit war es das Verwaltungszentrum eines sehr reichen, mit vielen Besitzungen ausgestatteten Stifts und sicher selbst sehr aufwendig ausgestaltet.

Schaut man sich die Anlage heutzutage an, meint man, dass der von einer Mauer umrandete, schöne Garten sehr organisch zu dieser Kleriker-Residenz gehört haben kann. Hat in diesem Grün der Propst nach harten finanziellen, theologischen oder politischen Verhandlungen Erholung gesucht?  Durchaus hohe Ansprüche wird ein Propst gehabt haben – immerhin ist z.B. der vorletzte Propst, Heinrich Tegen, Doktor des Kirchenrechts an der bedeutenden und malerischen Universität Bologna gewesen.

Was also ist gegen den Namen „Propsteigarten“ einzuwenden?

Nun: Wir reden von einem Chorherrenstift, das über vier Jahrhunderte in Sindelfingen bestanden hat. Das war zwar ein „weltliches“ Stift, aber die Chorherren waren Geistliche; und wir lesen von Prozessionen durch den Kreuzgang; es hat feierliche, große Messen gegeben; die weltliche Herrschaft wird das reiche Stift besucht haben. Viele Chorherren und viele Adlige sind im Sindelfinger Kreuzgang begraben worden.

Denn wir befinden uns mit dem Stift ja noch in katholischer Zeit, mit ihren vielen Symbolstrukturen. Und da ist immer das Westportal das Portal der Feierlichkeiten gewesen: Vom theologisch dunklen Westen ging die Prozession hinein in die Kirche auf den Chor im Osten zu, Jerusalem und der aufgehenden Sonne, dem Christussymbol, entgegen. Eine kleine Wallfahrt also.

Wie soll unter diesen Bedingungen das Westportal in seinem schmalen, dunklen, feuchten Gang funktioniert haben? Soll man sich mit den Monstranzen, Reliquienbehältern, Weihwasserkesseln, Baldachinen und Siegesfahnen durch diesen Gang, der hinten geschlossen war, gequetscht haben? Das ist undenkbar.


ergänzter Plan von 1830, der das "versteckte" Westportal neben dem Garten zeigt (Plan: Stadt Sindelfingen)

Die einzige Lösung aus diesem Problem: In katholischer Zeit, also bis 1535, hat es den Garten mit seinen Mauern gar nicht gegeben. Eine Prozession konnte an der Propstei entlang auf das Westportal zulaufen, davor konnte man sich auch versammeln. Das Westportal besaß keine blutrote Gerichtstür wie heute, denn die hat der Restaurator, der berühmte Architekt Leins, erst 1864 dahin versetzt. Sie gehörte eigentlich ans Südportal.

Seit  der Reformation1535 gab es keine Prozessionen mehr und überhaupt war der Symbolwert der unterschiedlichen Himmelsrichtungen des Gotteshauses in alle Winde zerstoben. Das Westportal verlor seine Bedeutung, das Tor auf der Südseite wurde der Haupteingang der Kirchengemeinde, zeremonielle Sonderstrukturen wurden abgelehnt. In der ehemaligen Propstei residierten nun die herzoglichen Beamten, die Vögte. Die wohnten mit ihrer Familie im letzten übriggebliebenen Stiftsgebäude und einer von ihnen ließ sich bei Gelegenheit an die Südseite des schönen Dienstgebäudes einen Garten anbauen. Dass sich durch die östliche Gartenmauer das einstige Hauptportal der nun evangelischen Martinskirche in einer schmalen, dunklen Passage wiederfand, regte niemanden auf.

mögliche Ansicht der Westseite der Martinskirche im 19. Jahrhundert; die Gartenmauer links (Collage: phil)

Vielleicht hat man diesen neuen Garten dann folgerichtig den „Vogteigarten“ genannt. Als aber Anfang des 19. Jahrhunderts die Vögte zu beamteten „Oberamtmännern“ wurden, brauchte man einen neuen Namen. Es war die Zeit des romantischen Rückblicks auf die deutsche mittelalterliche Geschichte, mit der immer durchaus kreativ umgegangen wurde. War es also der in die Sagenwelt verliebte, aus Sindelfingen stammende Pfarrer Ottmar Schönhuth, der den Garten nun zum mittelalterlichen „Propsteigarten“ machte? (Wir kennen unzählige kleine, sagenartige Erzählungen von ihm; vielleicht hat er sich auch in die Rolle eines hoch gebildeten Propstes hineingeträumt.)

Wir nehmen den Propsteigarten hin; weil sein Name zwar historisch falsch ist, aber an einen bedeutenden Teil der Sindelfinger Geschichte erinnert: an das bis heute vermisste bedeutende Chorherrenstift, das 1477 in einem grausamen Akt von Sindelfingen nach Tübingen verlegt wurde.

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