Warum der Name „Propsteigarten“ zwar nett, jedoch irreführend ist
der Propsteigarten (links ein Teil der historischen Propstei; hinter der Efeumauer das Westportal der Martinskirche) Foto: phil
Gleich
westlich der Martinskirche liegt der malerische Propsteigarten. Er hat seinen
Namen von dem historischen Gebäude, das eine seiner vier Seiten bildet: der
Propstei; also dem Gebäude, in dem in Zeiten, in denen sich hier noch das
bedeutende weltliche Chorherrenstift befunden hat, der Leiter des Stifts, der
Propst, seinen Amts- und Wohnsitz hatte. Damit war es das Verwaltungszentrum
eines sehr reichen, mit vielen Besitzungen ausgestatteten Stifts und sicher
selbst sehr aufwendig ausgestaltet.
Schaut man
sich die Anlage heutzutage an, meint man, dass der von einer Mauer umrandete,
schöne Garten sehr organisch zu dieser Kleriker-Residenz gehört haben kann. Hat
in diesem Grün der Propst nach harten finanziellen, theologischen oder
politischen Verhandlungen Erholung gesucht?
Durchaus hohe Ansprüche wird ein Propst gehabt haben – immerhin ist z.B.
der vorletzte Propst, Heinrich Tegen, Doktor des Kirchenrechts an der
bedeutenden und malerischen Universität Bologna gewesen.
Was also ist
gegen den Namen „Propsteigarten“ einzuwenden?
Nun: Wir
reden von einem Chorherrenstift, das über vier Jahrhunderte in Sindelfingen
bestanden hat. Das war zwar ein „weltliches“ Stift, aber die Chorherren waren
Geistliche; und wir lesen von Prozessionen durch den Kreuzgang; es hat
feierliche, große Messen gegeben; die weltliche Herrschaft wird das reiche
Stift besucht haben. Viele Chorherren und viele Adlige sind im Sindelfinger Kreuzgang
begraben worden.
Denn wir befinden
uns mit dem Stift ja noch in katholischer Zeit, mit ihren vielen
Symbolstrukturen. Und da ist immer das Westportal das Portal der
Feierlichkeiten gewesen: Vom theologisch dunklen Westen ging die Prozession
hinein in die Kirche auf den Chor im Osten zu, Jerusalem und der aufgehenden
Sonne, dem Christussymbol, entgegen. Eine kleine Wallfahrt also.
Wie soll
unter diesen Bedingungen das Westportal in seinem schmalen, dunklen, feuchten
Gang funktioniert haben? Soll man sich mit den Monstranzen, Reliquienbehältern,
Weihwasserkesseln, Baldachinen und Siegesfahnen durch diesen Gang, der hinten
geschlossen war, gequetscht haben? Das ist undenkbar.
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ergänzter Plan von 1830, der das "versteckte" Westportal neben dem Garten zeigt (Plan: Stadt Sindelfingen) |
Die einzige
Lösung aus diesem Problem: In katholischer Zeit, also bis 1535, hat es den
Garten mit seinen Mauern gar nicht gegeben. Eine Prozession konnte an der
Propstei entlang auf das Westportal zulaufen, davor konnte man sich auch
versammeln. Das Westportal besaß keine blutrote Gerichtstür wie heute, denn die
hat der Restaurator, der berühmte Architekt Leins, erst 1864 dahin versetzt.
Sie gehörte eigentlich ans Südportal.
Seit der Reformation1535 gab es keine Prozessionen
mehr und überhaupt war der Symbolwert der unterschiedlichen Himmelsrichtungen
des Gotteshauses in alle Winde zerstoben. Das Westportal verlor seine
Bedeutung, das Tor auf der Südseite wurde der Haupteingang der Kirchengemeinde,
zeremonielle Sonderstrukturen wurden abgelehnt. In der ehemaligen Propstei
residierten nun die herzoglichen Beamten, die Vögte. Die wohnten mit ihrer
Familie im letzten übriggebliebenen Stiftsgebäude und einer von ihnen ließ sich
bei Gelegenheit an die Südseite des schönen Dienstgebäudes einen Garten
anbauen. Dass sich durch die östliche Gartenmauer das einstige Hauptportal der nun
evangelischen Martinskirche in einer schmalen, dunklen Passage wiederfand, regte
niemanden auf. mögliche Ansicht der Westseite der Martinskirche im 19. Jahrhundert; die Gartenmauer links (Collage: phil)
Vielleicht
hat man diesen neuen Garten dann folgerichtig den „Vogteigarten“ genannt. Als
aber Anfang des 19. Jahrhunderts die Vögte zu beamteten „Oberamtmännern“
wurden, brauchte man einen neuen Namen. Es war die Zeit des romantischen
Rückblicks auf die deutsche mittelalterliche Geschichte, mit der immer durchaus
kreativ umgegangen wurde. War es also der in die Sagenwelt verliebte, aus
Sindelfingen stammende Pfarrer Ottmar Schönhuth, der den Garten nun zum
mittelalterlichen „Propsteigarten“ machte? (Wir kennen unzählige kleine,
sagenartige Erzählungen von ihm; vielleicht hat er sich auch in die Rolle eines
hoch gebildeten Propstes hineingeträumt.)
Wir nehmen den
Propsteigarten hin; weil sein Name zwar historisch falsch ist, aber an einen
bedeutenden Teil der Sindelfinger Geschichte erinnert: an das bis heute
vermisste bedeutende Chorherrenstift, das 1477 in einem grausamen Akt von
Sindelfingen nach Tübingen verlegt wurde.
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